Mother Mara
[…] Die Nacktheit – physisch wie emotional – wird zur Metapher für Selbstwerdung, für das Heraustreten aus vorgefertigten Rollen jenseits von beruflichem Erfolg und gesellschaftlichen Moralvorstellungen.
Text: Ruth Baettig

Mirjana Karanović trat 2006 in Andrea Štakas Das Fräulein – ausgezeichnet mit dem Pardo d’oro – am Locarno Film Festival erstmals ins Rampenlicht der Schweizer Filmszene. Ihre Blicke und Gesten als Reza, eine serbische Frau, die seit 30 Jahren in der Schweiz lebt, blieben unvergesslich. Karanović und Štaka sind auf mehreren Ebenen miteinander verbunden: In verschiedenen Filmen von Štaka spielte Karanović Schlüsselrollen, während Štaka nun als Produzentin ihres neusten Films involviert ist.
2016 wagte Mirjana Karanović mit A Good Wife ihr Debüt als Filmemacherin und verkörperte beeindruckend die Figur Milena – die Ehefrau eines Ex-Militärs. Mit Mother Mara geht sie nun einen Schritt weiter: erneut in der Doppelrolle als Schauspielerin und Regisseurin – und mutiger denn je. Mara, eine erfolgreiche Anwältin, verliert unerwartet ihren Sohn. Ihr Leben gerät ins Wanken. Wer war er wirklich? Wie hat er gelebt, wen hat er geliebt? Der Film folgt diesen Fragen mit einem fast detektivischen Ansatz und macht die Trauerarbeit einer Mutter und Frau spürbar. Denn Trauer konfrontiert uns mit uns selbst: Wer bin ich? Was will ich vom Leben? Was ist es mir wert? Die Filmemacherin Karanović und ihre Figur Mara stellen sich diesen Fragen mit radikaler Offenheit. Darf eine älter werdende Frau in dieser Situation eine unverhoffte Beziehung mit einem viel jüngeren Mann eingehen? Die Nacktheit – physisch wie emotional – wird zur Metapher für Selbstwerdung, für das Heraustreten aus vorgefertigten Rollen jenseits von beruflichem Erfolg und gesellschaftlichen Moralvorstellungen.
Mara ist im wahrsten Sinne des Wortes «lost» – verloren. Doch nicht Worte tragen diesen Prozess, sondern die kraftvolle Kameraarbeit von Igor Marović, die ihn sichtbar macht. Die detailreiche Bildgestaltung gibt Mara einen seelischen und physischen Kontext, eingebettet in die kühle, hochmoderne Architektur ihrer Wohnung.
Die Geschichte entwickelt sich stellenweise etwas vorhersehbar und wirkt manchmal forciert, so zum Beispiel in dem Moment, wo Mara unverhofft auf einen jungen Mann trifft, der ihr Liebhaber wird. Doch das intime Kammerspiel und das Breitwandformat, Maras Ringen um Nähe und Distanz fangen das auf. Kein Paradox, sondern ein stimmiges Konzept. Mara kommt einem nahe – manchmal verstörend nahe – und verliert sich dann wieder in der Weite der Kinoleinwand. Es lohnt sich, Mother Mara schon wegen der starken Anfangsszene zu sehen: einer Abschiedsfeier für ihren verstorbenen Sohn.
Die Nacktheit als Metapher – nichts mehr zu verlieren ausser dem eigenen Leben. «I’m lost» kann auch eine Perle sein, ein Aufbruch. Eine filmische Dringlichkeit, die unter die Haut geht.
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Screenings in Swiss cinema theatres
Info
Mother Mara | Film | Mirjana Karanović | SRB-SLV-CH-BOH-LUX 2024 | 101’ | Zurich Film Festival 2024, Solothurner Filmtage 2025 | CH-Distribution: cineworx
First published: March 21, 2025