Monologo colectivo

[…] Könnte es sein, dass der Mensch in seinem Verhältnis zur Welt, zur Natur, zum Tier, zum Wilden, zum Unbeseelten – und wie er sonst all die Dinge nennt, die nicht er sind – im Stadium des kollektiven Monologs gefangen ist? Und wäre es vielleicht an der Zeit, Arten der Wahrnehmung, des Wissens und des Seins anzuerkennen, die nicht die eigenen sind, und sich entsprechend zu verhalten?

  1. Stadium der sensomotorischen Intelligenz (0–2 Jahre): Erwerb von sensomotorischer Koordination, praktischer Intelligenz und Objektpermanenz; Objektpermanenz aber noch ohne interne Repräsentation.

Hände kleben Zeitungsseiten auf Kartonschachteln. Unzufriedene Menschen ziehen durch die Strassen. Laute Knalle zucken durch Stadt und Himmel. Eine haarige Hand wird vorsichtig durch zwei Gitterstäbe hindurchgestreckt. Eine andere, unbehaarte Hand ergreift sie sanft, streichelt sie, eine Stimme sagt beruhigende Worte, «tranquilo», im Glauben, dass Wörter etwas gegen die Angst ausrichten können. Die haarige Hand streichelt trotzdem zurück, vielleicht will sie zurückberuhigen. Wenn die Gitterstäbe nicht wären, könnte man von Symmetrie reden. Tiere sind nicht für die Stadt gemacht. Städte sind nicht für Tiere gemacht. Zoos sind kein guter Kompromiss. Auch der Ameisenbär ist unruhig, selbst wenn er nichts sieht, sondern vor allem riecht. Bilder folgen auf Bilder, Geräusche auf Geräusche, manche Zusammenhänge werden erkennbar, die meisten tun es nicht. Die einzig sinnvolle Kommunikation ist die der Berührung, aber nur, wenn bereits Vertrauen besteht (und das Vertrauen wurde schon zu oft gebrochen). Unbehaarte Hände wickeln neue Metalldrähte um einen Zaun, um ihn auszubessern. Sind es dieselben, die später das Futter bringen? Sollte man sie deshalb nicht beissen?

  1. Stadium der präoperationalen Intelligenz (2–7 Jahre): Erwerb des Vorstellungs- und Sprechvermögens; gekennzeichnet durch Realismus, Animismus und Artifizialismus (zusammenfassend: Egozentrismus); kann nun zwischen belebt und unbelebt unterscheiden.

Der kollektive Monolog sei sozial ineffektiv, heisst es in Sprechen und Denken des Kindes (1923) von Jean Piaget im entsprechenden Kapitel. Er beschreibt damit jene Phase der kognitiven Entwicklung des Kleinkindes, in der dieses zwar erste sprachliche Experimente mit dem Erzählen zu wagen beginnt, allerdings noch unfähig ist, sich in die Perspektive bzw. in den Wissensstand des zuhörenden Gegenübers hineinzuversetzen. Das führt dazu, dass jenes Gegenüber das Gesagte zwar durchaus versteht, jedoch nicht in einen sinnvollen Zusammenhang stellen kann. Handelt es sich bei ihm selbst auch um ein Kind im Stadium der «präoperationalen Intelligenz», wird auch dessen eventuelle Antwort den Wissenshorizont des anderen ausser Acht lassen. Kommunikation findet keine statt, es gibt bloss verschiedene Selbstgespräche oder eben einen kollektiven Monolog. Dieses Verhalten zeige sich manchmal auch, ergänzt Piaget wie nebenbei, «bei bestimmten Männern und Frauen mit kindlicher Veranlagung, die die Angewohnheit haben, laut zu denken, als ob sie mit sich selbst sprechen würden, sich aber auch ihrer Zuhörerschaft bewusst sind».

  1. Stadium der konkret-operationalen Intelligenz (7–12 Jahre): Erwerb der Fähigkeit zum logischen Denken in Bezug auf konkrete (tatsächliche oder vorgestellte, aber nicht hypothetische) Sachverhalte. Dies ist verbunden mit Dezentrierung, Reversibilität, Invarianz, Seriation, Klasseninklusion und Transitivität.

Der Film Monólogo colectivo der britisch-argentinischen Filmemacherin Jessica Sarah Rinland zeigt alltägliche Szenen aus Zoos und Tierauffangstellen in Argentinien. Also Orten, an denen sogenannt zivilisierte mit sogenannt wilden Lebewesen nicht nur auskommen müssen, sondern in ein sogenannt produktives Verhältnis zueinander treten müssen. Die Tiere sollen möglichst nicht verhungern, (aus-)sterben, gefährlich für Menschen und andere Tiere werden, Fluchtgedanken entwickeln, Fluchtgedanken in die Tat umsetzen und die Stadt unsicher machen (vgl. Ana Vaz’ E noite na América, 2022), krank werden oder allzu depressiv werden und etwaige Zoobesucher:innen betrüben (vgl. The Invisible Zoo). Im Workshop zum Umgang mit den Tieren schlüpft jeweils ein:e Teilnehmer:in in die Rolle des Tieres, während ein:e andere:r die richtige Körpersprache, die richtigen Befehle, die richtigen Beschwichtigungsmassnahmen erproben soll. Es gelingt nicht so recht, weil der Mensch sehr schlecht darin ist, sich in ein Tier hineinzuversetzen. Weil sein Denken von Sprache bestimmt ist und nicht mehr (oder nur noch selten) von unmittelbaren Empfindungen, Gefühlen, Ängsten, Panikzuständen, Aggressionen. Der Weg zurück ist zu weit, die Grenzen sind zu klar gezogen, die sozialen (und mutmasslich auch die psychischen) Konsequenzen wären zu heftig. Das Verhältnis zwischen «Mensch» und «Tier» muss folglich ein Hierarchisches sein. (Beziehungsweise müsste es das nicht, und etwa Donna Haraway hat verschiedenste schöne und auch nützliche Arten vorgeschlagen, wie die Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Spezies auch anders funktionieren könnten – nur wird das wahrscheinlich nicht in einem Zoo passieren.) Hierarchien bedeuten von Macht bestimmte Verhältnisse, und Macht bedeutet Missbrauch, Ausnutzung und Gewalt.
Wir hören von der Geschichte des Zoos von Buenos Aires, vom ehemaligen Zoodirektor, der auf dem Areal wohnte, seine Behausung und jene der Tiere nach seinen Vorstellungen formte, etwa im Stil der römischen Antike (er selbst war italienischer Einwanderer und ein hervorragender Orator, wie es heisst). Wir erfahren von Unfällen, von einem dunkelhäutigen Kind, das von einem kleinen Zug überfahren wurde. Wir sehen alte Zeitungsartikel, Journale (die etwa über die verschiedenen Gerüche im Zoo sinnieren) und Buchhaltungshefte, die mühselig (und sanft-haptisch, fast streichelnd) von einer unbehaarten Hand restauriert werden, während das Zoogelände immer weiter verwildert, weil man eingesehen hat, dass Zoos vielleicht doch keine gute Idee waren.
Eine Pflegerin weist einen Affen zurecht, der ihr an den Haaren zieht, liebevoll, aber bestimmt. Die Kamera kennt fast nur die grosse (sichere) Distanz oder die extreme Nähe. Der Schnitt interessiert sich nicht für Chronologien, Argumentationslinien und Aufmerksamkeitsspannen. Fast könnte man meinen, er mache sich keinen Begriff von Zeit. Ein Elefant wird gefüttert und die Kamera ist so nah dabei, dass man den fremdartigen Physiognomien von Rüssel und Elefantenmaul unmittelbar ausgesetzt ist, fasziniert und abgestossen zugleich. Kein Wunder, dass in dem buddhistischen Gleichnis jene blinden Männer alles Mögliche in dem Ding erkennen wollten, das sie ertasteten, bloss keinen Elefanten. Und natürlich geht es in dem Gleichnis um nichts anderes als um die Realität selbst, die sich aus einer einzelnen Perspektive eben nicht erkennen lässt.

  1. Stadium der formal-operationalen Intelligenz (ab 12 Jahren): Erwerb der Fähigkeit zum hypothetischen logischen Denken, was die Fähigkeit bedeutet, die konkreten logischen Operationen der Stufe 3 auf andere solche Operationen anzuwenden.

Könnte es sein, dass der Mensch in seinem Verhältnis zur Welt, zur Natur, zum Tier, zum Wilden, zum Unbeseelten – und wie er sonst all die Dinge nennt, die nicht er sind – im Stadium des kollektiven Monologs gefangen ist? Und wäre es vielleicht an der Zeit, Arten der Wahrnehmung, des Wissens und des Seins anzuerkennen, die nicht die eigenen sind, und sich entsprechend zu verhalten? Monólogo colectivo entwickelt keine Argumente, erzählt keine Geschichte, will von nichts überzeugen und bleibt dabei so entspannt, wie es die Verzweiflung zulässt. Die Menschen, die wir sehen, sind den Tieren, die sie betreuen, durchaus wohlgesinnt (und der Film tut dasselbe für die Menschen). Am Ende wird der Ameisenbär befreit, und die Geschwindigkeit, mit der er im Wald verschwindet, macht deutlich, dass er auf ein Verhältnis zu den Lebewesen mit den unbehaarten Händen, von denen er gerade vorher noch mit seiner langen dünnen Zunge das Futter abgeleckt hatte, in Zukunft gerne ganz verzichten wird. Vielleicht tun sie ihm ja diesen letzten Gefallen.

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Monólogo colectivo | Film | Jessica Sarah Rinland | ARG-UK 2024 | 104’ | Locarno Film Festival 2024

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First published: September 04, 2024