Mare

[…] Mare ist weder ein Opfer von Gewalt noch eine Unterdrückte oder Gefangene in den Strukturen ihrer Familie. Und doch klingt das Rauschen der Flugzeuge, die über Dubrovnik abheben, wie ein unterdrückter Seufzer der Protagonistin. Die Luftfahrt ist die zentrale Metapher des Films.

[…] Štaka schafft es, in der Erzählung im genau richtigen Moment innezuhalten, sie erzählt nicht zu Ende. Sie lässt offen. Sie setzt zum Sprung an, hält inne, ändert den Schnitt – ein synkopenhaftes Spiel.

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Texts: Karsten Munt, Ruth Baettig | Reading: Denise Hasler | Editing: Lena von Tscharner

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KARSTEN MUNT

Wer auf dem Flughafen arbeitet, empfindet beim Anblick des Flugfelds keine nervöse Vorfreude. Was die Urlauber als den ersten Schritt in Richtung Ferne wahrnehmen, ist für das Personal schlichte Arbeitsroutine. Mare (Marija Škaričić) hat die Routine des Flughafens von Dubrovnik gegen den Alltag in den eigenen vier Wänden getauscht. Vom alten Lebensentwurf ist für die Mutter von drei Kindern nur das Rauschen der überfliegenden Maschinen geblieben.

Mare ist der Puls ihrer Familie. Nicht allein im Haushalt hält sie das im Alltagstrott abgeflachte Zusammenleben aufrecht. Es gibt keine grossen Konflikte im Haus der Familie. Mare liebt ihre Kinder, sie liebt ihren Mann. Doch das Gefüge ist mit der Zeit spröde geworden. Das Zusammenleben kriegt erste Risse. Das Leben von Mare, Ehemann Djuro (Goran Novajec) und ihren drei Kindern ist, auch ohne grössere Krisen, träge geworden. Das neue Kleid wird neben dem Fernseher nicht mehr bemerkt, ein gemeinsamer Kinobesuch ist zu teuer und irgendwie den Aufwand auch nicht wert, Alltag und Sex sind ununterscheidbare Pflichtübungen geworden, denen Mare nur mit grösster Kraft noch etwas Freude abringen kann.

Als Mare den polnischen Gastarbeiter Piotr (Mateusz Kościukiewicz) trifft, strahlt erstmals Licht durch die Risse des Familienlebens. Eine einfache Interaktion, eine kleine Aufmerksamkeit und ein gemeinsamer Witz reichen aus, um ihr, gegen den eigenen Widerstand, ein kleines Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Für den Rest ihres Heimwegs klebt es an ihr. Am nächsten Tag ist der Glanz der Begegnung noch da. Eine Freundin erkennt die Schönheit in Mares Gesicht wieder. Der winzige Moment abseits des Alltags, der wie ein kleiner Lichtschein durch die Risse ihres Familienlebens dringt, ist das Schlupfloch, das Mare, ohne es zu wissen, schon lange gesucht hat: eine neue Berührung, eine andere, unbekannte Zärtlichkeit, etwas Fernes, Exotisches. Die Sehnsucht nach der alten Freiheit ist schliesslich so gross, dass Mare sich ihr nach einem kurzen, flüchtigen Flirt ganz hingibt.

Andrea Štaka erzählt von diesem Begehren aus der Perspektive eines Lebens, dessen Weichen lange gestellt sind. Mare ist weder ein Opfer von Gewalt noch eine Unterdrückte oder Gefangene in den Strukturen ihrer Familie. Und doch klingt das Rauschen der Flugzeuge, die über Dubrovnik abheben, wie ein unterdrückter Seufzer der Protagonistin. Die Luftfahrt ist die zentrale Metapher des Films. Ein Traum von einem fernen Leben, der inmitten der familiären Verpflichtungen nicht mehr geträumt wird. Ehemann Djuro arbeitet noch immer am Flughafen. Als Teil des Security-Personals sichert er das Flugfeld, fährt Patrouille um den Zaun; bewacht, um seine Familie finanziell versorgen zu können, den Bereich, den Mare durch Piotr wieder als den Raum ihrer Träume entdeckt. Allein die Präsenz von Hauptdarstellerin Marija Škaričić überstrahlt die so omnipräsente Metapher. Ihr gehört jede der oft dem Standardrepertoire des Familiendramas entsprechenden Szenen. Sie reisst den Film an sich, greift gierig nach der Freiheit, die ihre Affäre verspricht, streichelt aber auch sanft die Stirn ihrer Tochter. Eine Zerrissenheit, die sich nie ganz auflösen wird. Auch dann nicht, als Mare wieder in der Jacke des Dubrovnik-Airport-Personals über das Flugfeld schreitet. Ob sie einen Traum der Ferne sieht oder nur eine andere Alltagsroutine, sehen wir nicht.

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RUTH BAETTIG

Es passiert nichts, es passiert viel. Da ist Mare, eine Frau Mitte 40, verstrickt in Geschichte, verstrickt in ihre Familie. Da ist ihr halbwüchsiger Sohn Gabrijel, auch er verstrickt in vieles. Neben diesen beiden Hauptsträngen gibt es Nebenstränge. Alle drehen sich wie die Hamster in ihren Rädern. Es passiert viel, es passiert nichts.

Andrea Štaks Film ist ein Porträt eines Alltags nach einem verjährten Krieg, nach einer eingeforderten Rückkehr ins Heimatland. Ein Porträt einer Frau, einer Ehefrau, einer Mutter, die man (fast) vergisst, da sie zum Inventar einer Familie gehört, wenn da nicht noch etwas wäre, was man vom Leben fordert. Die Stärke von Mare ist auch die Stärke dieses Films, kontrastiert und auf vielen Ebenen liegend. Beeindruckend und ausdrucksstark verkörpert Marija Škaričić die Hauptfigur. Ihre Interaktionen in der Familie sind direkt, authentisch, offengelegt, ohne Prüderie. Man sieht ihr beim alltäglichen Toilettengang, bei Abendessen oder beim Sex einfach zu. Es passt...

Štaka schafft es, in der Erzählung im genau richtigen Moment innezuhalten, sie erzählt nicht zu Ende. Sie lässt offen. Sie setzt zum Sprung an, hält inne, ändert den Schnitt – ein synkopenhaftes Spiel. Die Gefahr, ins Klischee zu verfallen, ist da, gäbe nicht die virtuose Montage (Thomas Imbach und Redžinald Šimek) genug Raum für eine elliptische Erzählweise. Wir werden gefordert mitzudenken, die Geschichte(n) zu ergründen, von der nur die Spitze des Eisbergs zu sehen ist. Durch diese Erzählweise, die durch den Schnitt noch verstärkt wird, öffnen sich Fragen an eigene Bilder, innere Grenzen, Rollen, Familie, Sinnlichkeit und Sexualität.

Die atmosphärischen, kraftvollen Bilder von Erol Zubčević, gedreht auf 16mm und reich an Details, nehmen uns mit in die sinnlichen, sommerlich-warmfarbigen Ups und Downs von Mares Alltag. Ihr Agieren ist ein Versuch aus dem ausweglosen Drehen im Hamsterrad auszubrechen. Einem Drehen an festgefahrener Stelle und in tradierten, vorgeschriebenen Rollen. Dem Leben fehlt etwas, wenn es nicht gelebt wird. Das verkörpert Mare in ihrer Person. Ebenso geht es dem Sohn Gabrijel, der an der Grenze zum Erwachsensein steht und zudem im Plot eine Parallele öffnet, die ebenso fein wie fragil skizziert wird. Eine weitere Parallele führt zur Vergangenheit, die da bis an die Filmoberfläche pulsiert und die gegenwärtige Existenz bedingt. Dessen wir man auch gewahr, wenn die Flugzeuge bedrohlich nahe über die Köpfe der Familie und ihr Daheim hinwegfegen. Am Ende des Films gibt es Twists, die der fragilen Zukunft etwas Konkretes hinzufügen – und Mare scheint den Flugzeugen wieder gewachsen zu sein…

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Mare | Film | Andrea Štaka | CH 2020 | 84’ | Solothurner Filmtage 2021

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First published: March 22, 2020