Madame

Madame – Im Zeichen der Liebe zu sich selbst

Zu Beginn des Films, lackiert er seine Nägel schwarz – aus Protest, Trauer oder blosser Exzentrik? Er, das ist Stéphane Riethauser, seine Hände und seine Stimme aus dem Off leiten die Blicke der Betrachtenden im Dokumentarfilm Madame durch das Foto- und Videoarchiv seiner Familie. Stéphane hat gleich zwei bewegende Lebensgeschichten zu erzählen: die seiner Grossmutter Caroline, einer Matriarchin wider Willen, und die seines eigenen Coming-out in einer Familie mit grossen Erwartungen an den Erstgeborenen. Sicherlich ist es Glück, dass Riethauser auf wertvolles Bildmaterial, das in der Zeit weit zurückführt, zugreifen kann, und doch ist es seine geschickte Montage, die alles zu einem dichten und nahbaren Familienporträt werden lässt. Unkommentiert zeigte die Collage aus Familienfotos, Hochzeits-, Urlaubs-, Geburtstags- und Alltagsaufnahmen lediglich ein verklärt-harmonisches Bild der privilegierten Genfer Bourgeoisie. Doch dem ist nicht so, geleitet von Stéphane Riethauser als präsenten Erzähler beginnt eine mal schonungslos ehrliche, mal überspitzt ironisierte und doch immer um Selbstreflexion bemühte Reise in die Familiengeschichte der Riethausers.

Mit einer Mischung aus Bewunderung und Ehrfurcht nähert er sich dem Leben seiner Grossmutter. Als Tochter italienischer Einwanderer wurde Caroline als junges Mädchen zur Heirat gezwungen. Später musste sie, die geschiedene Mutter eines Kindes, hart für ihr Auskommen und schliesslich für den Erfolg arbeiten. Dieser wurde ihr von der damaligen Gesellschaft mit Missgunst und Spott vergolten. Der Reiz von Riethausers dokumentarischem Experiment liegt im Bruch zwischen Bild- und Tonebene. Erst durch seine Kommentare entstehen neue Kontexte – eine Erzählung, die sich der biografischen Chronologie entzieht und beide Lebensläufe geschickt miteinander verbindet. So kontrastiert er etwa die erschütternde Erzählung seiner Grossmutter von der schwierigen Zeit der Geburt ihres ersten Kindes, als sie alleingelassen und ohne eine gesicherte Existenz dastand, mit Videobildern aus Stéphanes eigener wohlbehüteten frühen Kindheit. Gleich darauf sehen wir den etwa dreijährigen Stéphane auf einem hübschen Pferdchen eines Kinderkarussells in warmem Herbstlicht schaukeln, musikalisch untermalt mit einer von Verdis erhabenen Opern.

Sehr viel härter geht Stéphane Riethauser mit sich selbst ins Gericht. Er zeigt einerseits den Erwartungsdruck seiner Familie und der Gesellschaft. Andererseits offenbart er die aus seiner jugendlichen inneren Zerrissenheit resultierenden misogynen und homophoben Gedanken. Riethauser gibt sogar Einblick in seine Tagebücher, die er als junger Erwachsener schrieb. Durch sie wird das Zwiegespräch, das er mit sich selbst über Jahre hinweg führte, am eindrücklichen sichtbar. Grossmutter und Enkelkind haben in ihrem Leben sehr unterschiedliche Widerstände überwinden müssen. Was sie verbindet, ist, dass sie gegen die Erwartungen ihrer Familien handeln mussten, um sich selbst treu zu bleiben. Und so besetzt letztlich auch die Beziehung zwischen ihnen die Hauptrolle im Film. Ihre Beziehung und ihre Freundschaft, ihre Gespräche und das Ausbleiben dieser, bis das Unaussprechliche schliesslich zutage kommt. Madame ist ein bewegendes Familienporträt, ein mutiges Zeitdokument und ein pointierter Appell an die Akzeptanz. Doch allem voran wird es nie zur selbstverliebten Nabelschau, sondern erzählt zwei Lebensgeschichten im Zeichen der liebevolle Suche nach sich selbst.

  

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Madame | Film | Stéphane Riethauser | CH 2019 | 94’ | Visions du Réel 2019, Locarno Film Festival 2019

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First published: November 17, 2019