Las herederas

[…] Denn so geschickt wie der Regisseur mit der Kamera und im Schnitt die Gegensätze zwischen Arm und Reich, Glanz und Elend, Scham und Lust miteinander kontrastiert, bleibt dem Zuschauer bald keine eine andere Wahl, als sich genauso verunsichert und beklommen zu fühlen wie die von Ana Brun so meisterlich verkörperte Protagonistin.

[…] Martinessi weiss um die Kraft und Wirkung seiner Heldin, die mit jedem Augenkontakt, jeder Geste, jeder noch so unscheinbaren Bewegung ein Stück weiter an und über ihre Grenzen hinausrückt.

Text: Pamela Jahn

Ein Schleier des Schweigens schmiegt sich um sie wie um andere Leute ein Korsett, beklemmend, unkomfortabel, hineingezwängt in den beengenden Zustand zwischen Scheu und Begierde: Eine in die Jahre gekommene Frau, die nicht aus ihrer Haut kann, die weiss, was sie nicht mehr will, und die doch nicht zum Handeln imstande ist, allein das Reden fällt ihr schwer genug. Wie fast unmerkliche Wellen streichen die Regungen dabei durch die Flächen ihres zunehmend faltigen Gesichts. Hinter ihren Augen hadern die Emotionen, die nach Ausbruch verlangen. Doch Chela ist weder frei, noch kann sie sich befreien von dem Leben, in dem sie sich mit ihrer Geliebten Chiquita über Jahrzehnte eingerichtet hat.

Die Stille, die ihre eigene Wortkargheit hervorruft, fordert Chelas Umfeld umso dringender zur Mitteilung auf. Alle erzählen ihr von ihren Sorgen, Gedanken und Problemen, worauf die scheue, aber liebenswerte Dame in den meisten Fällen mit einem sanften Lächeln reagiert. Die trügerische Ruhe, die sie dabei nach aussen ausstrahlt, macht sie schliesslich zur perfekten Chauffeurin, als dem einst wohlhabenden Paar schliesslich das Geld ausgeht und Chiquita zudem wegen Überschuldung ins Gefängnis kommt. Auf sich allein gestellt und konfrontiert mit dem Ausmass der finanziellen Schwierigkeiten, in denen sie sich befindet, gelingt es Chela ohne grosses Zutun ihrerseits, aus einem einfachen Gefallen für eine Nachbarin im Handumdrehen einen gut funktionierenden Taxi-Service für betuchte ältere Damen auf die Beine zu stellen. Auf einer der Fahrten lernt sie dabei auch eine der Töchter kennen, die attraktive, unbändige Angy, von deren Sinnlichkeit, Ungebundenheit und Selbstvertrauen sie sich unmittelbar angezogen fühlt.

Vielleicht ist Marcelo Martinessis beachtliches Spielfilmdebüt am besten mit einer ähnlichen Vorsicht zu betrachten wie der schweigsame Blick, mit dem Chela ihre Aussenwelt observiert. Denn so geschickt wie der Regisseur mit der Kamera und im Schnitt die Gegensätze zwischen Arm und Reich, Glanz und Elend, Scham und Lust miteinander kontrastiert, bleibt dem Zuschauer bald keine andere Wahl, als sich genauso verunsichert und beklommen zu fühlen wie die von Ana Brun so meisterlich verkörperte Protagonistin. Nichts entgeht ihren wachsamen Sinneswahrnehmungen, vor allem nicht Angys kokette Bemerkungen ihr und ihren Verflossenen gegenüber. Und doch verharrt sie lange – vielleicht zu lange – in ihrem Schneckenhaus aus Status, Gewohnheit und Angst vor jeder Art von Veränderung, ob innerlich oder öffentlich. Die Farben, in denen sie sich bewegt, sind verblasst, eine respektvolle Distanz bleibt in jeder Einstellung gewahrt, aber Martinessi weiss um die Kraft und Wirkung seiner Heldin, die mit jedem Augenkontakt, jeder Geste, jeder noch so unscheinbaren Bewegung ein Stück weiter an und über ihre Grenzen hinausrückt.

Will man einen Vergleich ziehen, stösst man dabei recht schnell auf Gloria, gespielt von Paulina García, in dem gleichnamigen Film von Sebastián Lelio. Beides sind Frauen, denen sich in der zweiten Hälfte ihres Lebens die Möglichkeit zur Emanzipation offenbart, der sie so begeistert wie beunruhigt gegenüberstehen und die in ihnen auch eine neue, ungewohnte Mobilität wachruft, die mühsam und doch unabdingbar die alten Ketten zu sprengen imstande ist.

Am Ende liegen die zuvor sorgfältig arrangierten Bestandteile eines Getränketabletts, das für Chela bislang fest zu ihrer alltäglichen Routine gehörte, in Scherben auf dem Boden verteilt. Die scharfkantigen, glänzenden Glas- und Porzellanstücke dekorieren den verwässerten Teppich wie eines der Stillleben, in denen allein Chela bislang ihre verträumte Leidenschaft auszuleben verstand. Das Bild ist trefflich, auch wenn die Metapher auf den ersten Blick etwas überholt erscheint. Aber es bleibt, während Chela letztlich zwar nicht das Schweigen, aber immerhin mit ihrer Vergangenheit bricht. 

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Las herederas | Film | Marcelo Martinessi | PAR-URU-BRA-DE-FR-NOR 2018 | 95‘ | Festival FILMAR en América Latina Geneva 2018

Silver Bear for Best Actress (Ana Brun) and FIPRESCI Prize (Marcelo Martinessi) at Berlinale 2018

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First published: January 12, 2019