Julie Olympia Cahannes & Rage | Mamagei (Bird’s Nest) 

«- Entschuldigung, wer ist eigentlich gestorben? - Die 2.5-Zimmerwohnung mit Balkon.»

Mamagei (Bird’s Nest) ist der ZHdK-Abschlussfilm von Julie Olympia Cahannes. Das Drehbuch wurde von «Rage» entwickelt, einem Drehbuch- und Regieduo, das sie gemeinsam mit Flurina Gutmann gegründet hat. Der Film erzählt von der verzweifelten Wohnungssuche eines jungen Paares, das ein Kind erwartet. Die Mechanismen des Immobilienmarkts erfordern ihnen ein absurdes Vorgehen.

«Die Idee, dass nur noch Verstorbene aus Wohnungen ausziehen, war der Keim für unsere Geschichte. Ursprünglich waren aber die zwei Hauptfiguren unterhaltsame Nebenfiguren», erzählen die zwei Drehbuchautorinnen. Im Schreibprozess entdeckten sie, dass das schwangere Paar im Zentrum sein muss. «Es gibt diese Urban Legend, dass wenn du ein Kind erwartest oder hast, du sofort eine Wohnung bekommst. Uns war es ein Anliegen, die Wohnungsnot zu thematisieren und was für skurrile Horrorszenarien dadurch entstehen können», erklärt Julie Olympia Cahannes.

Absurder und düsterer Humor wird in Mamagei (Bird’s Nest) benutzt, um die Dringlichkeit der Problematik sichtbar zu machen. Der Film geht sogar so weit, dass das Paar eine alte reiche Dame ermorden muss, um ihre Wohnung übernehmen zu können. «Uns hat interessiert, was Menschen tun würden, um eine Wohnung zu bekommen. Die Gentrifizierung eskaliert immer mehr und fordert das Äusserste», erzählt Flurina Gutmann.

Die Drehbuchautorinnen sehen Humor als ein Werkzeug, um die Perspektive zu wechseln. «Es hilft uns persönlich, mit schwierigen Themen umzugehen und die Realität erträglicher zu machen. Aber es erlaubt uns auch, mit dem Publikum besser zu kommunizieren.» Ihr Humor ist wütend, wie der Name ihres Duos: Rage. «Wir wollten ein Wort, das Power hat. Wut ist noch immer eher männlich konnotiert und bei Frauen gesellschaftlich leider tabuisiert. Wir wollen politische Themen ansprechen und mit Normen brechen», erklärt das Duo. Humor ist aber auch subjektiv und komplex. «Es ist eines der schwierigsten Genres», sagt Julie Olympia Cahannes. Darum ist es für Rage auch bedeutend, ihre Figuren ernst zu nehmen. In Mamagei (Bird’s Nest) wird viel mehr das System als die Menschen ausgelacht. «Manchmal sind Figuren einfach abgründig und böse. Aber häufiger haben Menschen auch tragisch-komische Gründe, in einem System mitzumachen», sagt Flurina Gutmann.

- De Ueli isch mi dritti Papagei gsi. Sehr sprachbegabt, aber leider depressiv.

Wie schreibt Rage zu zweit? Julie Olympia Cahannes und Flurina Gutmann haben eine sehr präzise Schreibroutine. Es beginnt mit einem Thema, das sie beschäftigt. Rage recherchiert dazu und holt sich Inspiration aus der Realität. «Wir waren manchmal überrascht, wie grotesk die Realität schon ist. Eigentlich sind wir mit unseren fiktionalen Komödien gar nicht so fern vom Leben», sagt Julie Olympia Cahannes. Danach gibt es verschiedene Etappen, die ihnen helfen, progressiv eine Geschichte zu entwickeln.

Die Schreibroutine von Rage:

1) assoziative Diskussion

2) Spiel mit möglichen Figuren und Erzählsträngen

3) Plotten an der Pinnwand

4) Eine Autorin schreibt die erste Fassung (vom Konzept/Exposé/Drehbuch)

5) Gemeinsame Besprechung

6) Die andere Autorin schreibt die zweite Fassung

Etappen 4) bis 6) wiederholen, bis das Drehbuch für die Umsetzung bereit ist.

Die Zusammenarbeit hilft ihnen, ihre eigenen Ideen zu prüfen. «Wir sind immer in einem Feedback-Loop. Dies ist essenziell für unsere Drehbuchentwicklung», erzählt Flurina Gutmann. Sie müssen die Ideen zuerst immer einander pitchen. So können sie ihre Ideen sortieren und kondensieren, bevor sie mit einer Produzent:in sprechen. Durch ihren Austausch werden gewisse Ideen aufgegeben, aber andere auch manchmal gerettet. Flurina Gutmann: «Es kann auch vorkommen, dass die eine der anderen einen Gedanken erzählt und ihn gleich wieder verwerfen möchte. Doch die andere sieht in diesem einen interessanten Kern, den sie unbedingt weiterverfolgen möchte».

Was passiert, wenn sie sich mal uneinig sind? «Wir diskutieren, bis wir verstehen, weshalb wir unterschiedlicher Meinung sind. Es geht uns nicht darum, ob ich oder sie gewinne. Oft haben wir beide einen interessanten Ausgangspunkt», erzählt Flurina Gutmann, «Klar, ist es hart, wenn sie meine Idee nicht lustig findet. Aber wir wissen beide aus Erfahrung, dass wir gemeinsam eine noch bessere Idee finden werden.» Wenn sie in anderen Writers Rooms für externe Projekte mitarbeiten, ist das Vorgehen anders. Dort gibt es eine klare Hierarchie, die entscheidet, wer das Schlusswort hat. «Zwischen uns ist es nicht so, denn wir können uns auf unseren erprobten kollektiven Prozess verlassen», sagt Flurina Gutmann.

Momentan entwickelt Rage einige Projekte im Serien- und im Kinospielfilmbereich. «Für die Zukunft wünschen wir uns, dass wir als Duo weiterhin mit unserem Humor überraschen und zum Nachdenken anregen».

Info

Mamagei (Bird’s Nest) | Julie Olympia Cahannes & Rage | CH 2022 | 13’ | ZHdK

First published: May 24, 2024