Happy End

[…] Es hat mit der Frage zu tun, wer wir sind, zu wem wir werden, wenn wir einen Film von Michael Haneke sehen. Es hat mit der bestimmten Verfasstheit unserer Subjektivität zu tun, die ein Haneke-Film grundsätzlich hervorbringen will. Und diese Verfasstheit ist die des Zeugen.

[…] «Happy End» – und das ist erstaunlich, denn Hanekes Filme sind in der Regel äusserst kompakt strukturiert – lässt sich vielleicht am besten als ein in unterschiedlich konstellierten Konfrontationsszenarien zerklüftetes Gebilde beschreiben.

Text: Lukas Stern

Am Anfang ist das Bild ein verengtes, ein Smartphone-Display. Im Hochkant-Format filmt eine anonyme Subjektivität eine Frau im Bad. Textfetzen fliegen über das live Gefilmte, welche die Aktionen der Frau benennen - Händewaschen, Klospülung betätigen, Creme auftragen - die multimediale Oberfläche von Snapchat. Mit diesem Anfang schliesst Michael Haneke thematisch an das an, was in seinen Filmen so gut wie immer eine tragende Rolle spielt: Medien - oder präziser formuliert Bildmedien, ihre Funktionsweisen und ihre eben damit verknüpften Eigensinnigkeiten, die, weil die Funktionsweisen die bilderzeugende Subjektivität verschleiern, gespenstisch werden. Was hier geschieht, hat weniger mit einem zu behandelnden Thema zu tun, es hat mit uns zu tun. Es hat mit der Frage zu tun, wer wir sind, zu wem wir werden, wenn wir einen Film von Michael Haneke sehen. Es hat mit der bestimmten Verfasstheit unserer Subjektivität zu tun, die ein Haneke-Film grundsätzlich hervorbringen will. Und diese Verfasstheit ist die des Zeugen. Der Zeuge steht nämlich in einem besonderen Verhältnis zu dem, was er sieht. Der Zeuge ist gemeint. Was ich sehe, meint mich, betrifft mich, ruft mich an, zwingt mich in ein ethisches Dispositiv. Als Zeuge bin ich verantwortlich zu handeln wie etwa beim berühmten, nicht zuletzt von Haneke immer wieder heranzitierten Beispiel eines Autobahn-Unfalls (die Figur des Gaffers ist nichts anderes als die Transformation des Zeugen in den Mörder), als Zeuge bin ich verpflichtet, die Wahrheit auszusagen. Kurz: Bin ich ein Zeuge, habe ich Pflichten, verletzte ich diese Pflichten, werde ich zum Mörder, und bin ich Mörder, bin ich mir selbst der Beweis dafür, dass die Gesellschaft im Innersten krankt.

Ich schaue...

Wenn man mit den Filmen Hanekes ein didaktisches Kino in Verbindung bringt, das Kino einer klerikalen Ethik, dann zurecht und genau deswegen. Und nun kommt der Witz: Denn die appellative Ansprache des „Du-musst!“ mischt sich nun mit der passiven Grundkonstitution des Kinozuschauers, mit dem „Ich-kann-aber-nicht“. Die Brutalität der Haneke-Filme hängt mit der Ausweglosigkeit dessen zusammen, dass ich in jedem Moment aufs blosse Schauen zurückgeworfen bin, dass ich an diesem Zurückwurf meiner selbst leide, mehr noch, dass ich mich dafür hasse. Das ist der Thrill: Selbsthass – Selbsthass dafür, dass ich immer noch schaue. Und meistens sehe ich – sehe ich als Zeuge – einen Mord. Happy End nun versammelt abermals ein Personal der Mörder und Selbstmörder. Es geht um eine bürgerliche Familie in Calais. Einst leitete das Familienoberhaupt Georges Laurent (Jean-Louis Trintignant) eine Baufirma, nun leitet seine Tochter Anne (Isabelle Huppert) die Geschäfte. Ihr Sohn Pierre (Franz Rogowski mit einer grandiosen Tanzszene) ist ein Taugenichts und weiss, dass er niemals das Zeug dafür haben wird, die Firma zu übernehmen. Annes Bruder Thomas (Matthieu Kassovitz) ist Chefchirurg in Lille und nimmt nach dem Tod seiner Exfrau die gemeinsame, dreizehnjährige Tochter Eve bei sich auf.

Happy End – und das ist erstaunlich, denn Hanekes Filme sind in der Regel äusserst kompakt strukturiert – lässt sich vielleicht am besten als ein in unterschiedlich konstellierten Konfrontationsszenarien zerklüftetes Gebilde beschreiben. Dass er nicht lieben könne, sagt Eve einmal zu ihrem Vater, als der sie nach einem missglückten Selbstmordversuch im Krankenhaus besucht. Das sei auch nicht so schlimm, sie wolle nur nicht in ein Heim. An den Zustand, dass man sich weder liebt noch vertraut, dass man als Familie eine Zwangsgemeinschaft bildet, die nach Aussen hin Geschlossenheit vorgibt, nach Innen hin aber zerfressen, eben zerklüftet, unverbunden ist, hat man sich lange gewöhnt. Intim werden die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern dann, wenn man sich über die geteilten Abgründe verständigt, wenn etwa Eve mit ihrem Opa am Schreibtisch sitzt und ihm davon erzählt, dass sie einst versucht hatte, ein Mädchen zu vergiften, und wenn der Grossvater darauf antwortet, dass er seine eigene Frau mit einem Kissen erstickte, als diese schwer krank war (Trintignant tat genau das mit Emmauelle Riva im Vorgängerfilm Amour). Ansonsten sind Intimbeziehungen zumeist Übergriffe in die Intimsphäre: Eve liest beispielsweise einmal heimlich die Sex-Chat-Verläufe ihres Vaters mit einer Gambistin. Anne klingelt so lange an der Wohnungstür ihres betrunkenen, lethargischen, geprügelten Sohnes Pierre, bis dieser ihr endlich öffnet, um sich das mütterliche Unverständnis über seine Depression, das er scheinbar zu Genüge kennt, abzuholen.

Ich schaue in die hässliche Fratze...

Pierre ist die interessanteste Figur von Happy End – und zwar deshalb, weil er es ist, der den zerklüfteten Zustand der Familie exponiert. Er ist der Agent zwischen Innen und Aussen, der einzige, der nicht mit dem Rest unter einem Dach wohnt. Er ist eine Gefahr. Er ist es auch, der den Aussenraum Calais, also das zum Symbol gewordene Scheitern der europäischen Migrationspolitik, buchstäblich in den Innenraum der bürgerlichen Familie hineinschleppt, der eine Konfrontation provoziert, die den ohnehin schon prekären Familienstrukturen den finalen Hieb versetzt. In einem weiss-gedeckten Restaurant, gerade hatte Anne den Kellner gebeten, die Menügänge ohne Pause zu servieren, haben die Laurents zum Festessen geladen. Pierre kommt zu spät zur Veranstaltung und bringt mehrere geflüchtete Männer mit. Vor versammelter Festgesellschaft erzählt er deren Fluchtgeschichten, bis ihm die Mutter aus Rache einen Finger bricht. Pierre tut damit etwas, was Haneke-Filme immer tun: Er lässt ein Bild bezeugen. Denn nichts anderes sind die Geflüchteten in dieser Szene, sie sind das Bild, das von ihnen abgezogen wurde, sie sind ohne Stimme, einer fremden Intentionalität unterworfen. Als Zeugen eines Bildes erstarrt die Festgesellschaft, sie kann nichts tun, nur schauen, sie sieht sich selber sehen, sieht einander ins Gesicht, sieht die eigene Scham über die Konfrontation mit einem Bild. Diese Szene, sie ist so brutal wie interessant, reinszeniert nichts anderes als das Haneke'sche Dispositiv selbst. In der allerletzten Szene kommt Haneke wieder ganz zu sich selbst: Das Bild verengt sich, wir sind wieder Zeugen. Bitterböse ist die letzte Einstellung (ich habe nicht verstehen können, wie die Kollegen in Cannes darin einen Comic Relief sehen konnten, denn klar, eine Fratze ist witzig, aber doch nicht, wenn sie das eigene Gesicht betrifft). Was es aber bei Haneke in dieser Form noch nicht gab – und darin liegt vielleicht das befremdliche und am Ende womöglich sogar progressive Moment der Festszene mit den Migranten –, ist, dass sich dieses Kino einmal selbst in die hässliche Fratz schaut.   

Und das mag nun zu weit gehen, ein bisschen aber habe ich es so wahrgenommen und es machte mich nur umso ratloser und aufgewühlter: Happy End scheint am Ende vor seinen eigenen Bildern zu kollabieren, seinem eigenen Dispositiv nicht mehr zu trauen, von seiner eigenen Figur, nämlich Pierre, hintergangen worden zu sein. Ist Hanekes Kino angesichts der Bilder von Migration und Flucht mit einem Mal verwundbar? Ist es Hanekes Finger – jener, mit dem er immer auf mich zeigte – der eigentliche Finger, der da brach?


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Happy End | Film | Michael Haneke | FR-DE-AT 2017 | 107’ | Zurich Film Festival 2017

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First published: October 11, 2017