Gundermann
[…] Der Abstand zwischen dem echten und dem falschen Gundermann lässt kaum Platz für die Wahrheit dazwischen, wodurch ebendiese umso mehr zur Lücke wird, die dieser Film reisst und um die er kreist.
[…] Mit dieser hochkomplexen Gundermannfigur führt uns Dresen durch eine höchst gewöhnliche und unwahrscheinlich ungewöhnliche DDR-Biografie.
Text: Lukas Stern

Das, was die Zeit vor der Wende von der Zeit nach der Wende trennt, bleibt bei Andreas Dresen ein Widerspruchskomplex zwischen den Ebenen. Tatsächlich ist es so, dass die DDR in Gundermann gerade nicht als ihr eigenes Auslaufmodell inszeniert wird, wie es der förderdeutsche Spielfilm historistisch-rückblickend oft und mit den Aprioris heutiger Geschichtskundigkeit gerne tut (denken wir etwa an die Exporthits Goodbye, Lenin! oder Das Leben der Anderen). Dresens Film beginnt in den 1990er-Jahren, in einer Zeit, in der es die DDR schon nicht mehr gab, dann springt er zurück in die 1970er-Jahre, in die Zeit, in der es die DDR sehr wohl noch gab. Und dann? Dann springt er wieder in die 1990er, von dort aus wieder in die 1970er und so weiter. Allein dieses kluge Montageprinzip verhindert jeden teleologischen Geschichtsbildentwurf. Zwischen der Zeit vor der Wende und der Zeit nach der Wende – das wäre ja auch unsinnig zu leugnen – haben sich selbstverständlich Dinge verändert, sie haben sich auch, wenn man so will, auf dramatische Art und Weise verändert. Aber in Gundermann sieht man diesen Veränderungsprozess eben von zwei Seiten; in Gundermann fliesst die Vergangenheit gerade nicht mit einförmiger Schleppkraft in ihre Zukunft, vielmehr fliessen Vergangenheit und Zukunft, das heisst Geschichte und Gegenwart, einander entgegen.
Aber wer war Gerhard Gundermann eigentlich? Gundermann war Kommunist, Marx-Leser, und Kohlearbeiter in der Lausitz – Baggerfahrer, um genau zu sein; von der Stasi wurde er als IM (inoffizieller Mitarbeiter) angeworben und zum Ausplaudern gebracht – über Westbesuche seiner Freunde beispielsweise; er war Melancholiker, Romantiker, Brillenträger, Umweltschützer, Liedermacher. Es macht Sinn, diesen Gundermann aus Dresens Perspektive beziehungsweise aus der grossartigen Verkörperungsarbeit des Schauspielers Alexander Scheer heraus zu beschreiben. Und es macht deshalb Sinn, weil sich dieser Kunstgundermann einerseits (mimisch, gestisch, optisch, klanglich) derart anschmiegt an den wahren Gundermann, dass zuweilen jede Schauspielebene hinter der perfekten Maskerade verschwindet. Und es macht Sinn, weil dieser Kunstgundermann andererseits auch immer eine Kinofigur bleibt, ein Körper und ein Charakter mit einer gewaltigen filmkünstlichen Eigenschaftsdichte. Der Abstand zwischen dem echten und dem falschen Gundermann lässt kaum Platz für die Wahrheit dazwischen, wodurch ebendiese umso mehr zur Lücke wird, die dieser Film reisst und um die er kreist.
Mit dieser hochkomplexen Gundermannfigur führt uns Dresen durch eine höchst gewöhnliche und unwahrscheinlich ungewöhnliche DDR-Biografie. Auf der Bühne sehen wir den Sänger selten, sehr viel öfter sehen wir ihn hinter der Bühne, dem Ort, an dem er einmal (quasi die Weltgeschichte berührend) den um Köpfe kleineren Bob Dylan trifft, der ihm einen väterlichen Schulterklopfer schenkt, und an dem er sich Abend für Abend von seiner Band, die gerade auf das gelungene Konzert anstösst, verabschiedet, weil seine Frühschicht ruft. Dann sehen wir ihn in der Braunkohlemine; wir sehen ihn den monströsen Schaufelradbagger bedienen: graubrauner Himmel, graubrauner Boden. Ein apokalyptisches Tableau, das Dresen gerne aus einem breiten Winkel und von sehr weit oben filmt und das im Grunde weniger eine Welt zu zeigen scheint, die es einmal gegeben haben könnte, und sehr viel mehr eine Welt, die noch auf uns zukommen könnte. In diesen Bildern zittert etwas Anachronistisches. Für den ostalgischen DDR-Ikonenkult machen sie sich völlig unbrauchbar.
Am Ende des Films (und das ist dezidiert nicht das Ende der sich permanent zeitverschiebenden biografischen Erzählung) gelangt Gundi, wie er von seinen Engsten genannt wird, in den Besitz seiner Stasi-Täterakte. Eine befreundete Journalistin drückt ihm den zentnerschweren, Gauck-behördlichen Papierstapel in die Hand. Darüber reden möchte sie nicht. Seine Opferakte sei verschwunden, sagt sie noch, dann will sie wieder in ihren roten Sportwagen steigen und davonfahren. Die allzu einfache Dichotomie von Stasi-Täter und Stasi-Opfer, von Konformist und Oppositionellem, wie sie von spielfilmischen Reflexionen über die DDR immer wieder bemüht wurde, um den westdeutschen Augen (nicht nur diesen, aber besonders diesen) einen Blick auf das Leben im sozialistischen Osten zu schenken, wird von Dresen in dieser Szene endgültig und restlos getilgt und Lügen gestraft. Auch Gundermann wurde bespitzelt, sogar von jenen, auf die er selbst angesetzt wurde: ein Opfertäter und ein Täteropfer. Welche der beiden Varianten mehr ins Gewicht fällt, darüber entscheidet die Aktenlage, aber eben auch nicht nur die Aktenlage, sondern auch der Charakter, aber eben auch nicht einfach nur der Charakter. Im Nachgang dieser Szene sagt Gundermann zu seiner Frau Conny, er könne sich schlicht nicht mehr an alles erinnern, was er damals preisegegeben habe. Und überhaupt sei es schwer zu sagen, ob die Informationen, die den ein oder anderen in Bedrängnis hätten bringen können oder vielleicht sogar gebracht haben, von ihm stammten oder von jemand anderem.
Viel Zeit blieb Gerhard Gundermann nicht mehr, um sich an all das wieder zu erinnern, was er vergessen hatte. Mit nur 43 Jahren starb 1998 er an einer plötzlichen Hirnblutung. Es bleibt ihm aber noch Zeit, seinem Publikum vor Konzertbeginn die Wahrheit zu erzählen. «Wenn ihr jetzt faule Eier auf die Bühne werft, dann schaut bitte, dass ihr mich trefft und nicht den Gitarristen», sagt er am Ende von Gundermann, ein letztes Mal auf der Bühne stehend. Es ist eine wunderbare Szene, mit der Dresen seinen Film beschliesst. Und zwar deshalb, weil es gerade nicht die ganze Wahrheit ist, die hier endlich ins Bühnenscheinwerferlicht gerät und dem Aha-Apparat des Publikums überreicht wird, sondern ganz einfach nur Wahrheit – oder eben das, was von der Wahrheit übrig ist.
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