Grain

[…] Der Mensch und die Welt sind auseinandergetrieben worden, das Band zwischen ihnen ist gerissen; jetzt gilt es, sie wieder zusammenzuführen – mit Wissenschaft und das heisst: mit Weisheit.

[…] Gut möglich, dass mit den deutschen Fördergeldern auch deutsche Drehbuchvorstellungen in diesen Film einzogen und ihm eine Konkretheit belasteten, die dieser in seiner labilen Grauheit gar nicht aushalten konnte (das deutsche Filmfördersystem krankt unheilbar an der Verwechslung von Konkretheit mit Weisheit).

Text: Lukas Stern

Die Welt ist grau und voller Weisheit. Keine Tiere, keine Ernte, dafür ein technisches Allerlei: militärische Ortungsdrohnen, Videoscreens, die sich in die Luft projizieren lassen, führerloser Nahverkehr und Grenzfeueranlagen, die einen Flüchtenden binnen Sekunden zu Asche werden lassen. Ganz klar umrissen ist diese Zukunft nicht, die Semih Kaplanoğlu in Grain entwirft – weder auf einer zeitlich-historischen noch auf einer bildlichen Ebene. Das Grau der Häuser verlängert sich in das Grau des Himmels, das Grau der Erde in das Grau des Wassers, das Grau der Gesichter in das Grau der Strassen und der Steine und der anderen Gesichter: das Grau der Menschen, um es kurz zu sagen, in das Grau der Welt. Der Mensch und die Welt sind auseinandergetrieben worden, das Band zwischen ihnen ist gerissen; jetzt gilt es, sie wieder zusammenzuführen – mit Wissenschaft, und das heisst: mit Weisheit.

Mit einer genetischen Krise, die über die Welt hereinbrach, das Saatgut veränderte und zu Bodenunfruchtbarkeit führte, kamen auch neue Diskurse in die Welt. «Gegen den genetischen Rassismus», liest man einmal auf einem grauen Plakat, das an einer grauen Betonwand angebracht wurde. Es sind die Diskurse der Städte; das sind die Orte der Politik. Ein neuer Faschismus scheint sich hier gerade breitzumachen, ein Faschismus der Konzerne; er keimt noch, er schwelt, er ist noch nicht ganz etabliert, noch nicht ganz da, noch nicht das Monster, das er jederzeit zu werden droht. Wir spüren seine Anwesenheit, wir sehen Lager, in denen Kinder interniert sind, Stacheldrähte, Gesichtserkennungsgeräte, wir sehen auch sterbende Flüchtende. Die Sprache, in der man kommuniziert, ist reduziert und grob, sie ist asozial, unmenschlich, empfindungsbefreit. Aber noch gehen die Menschen durch die Strassen, ihren eigenen Zielen und Gedanken nach – zumindest lässt sich daran noch glauben.

Einer dieser Menschen ist der Professor Erol Erin (Jean-Marc Barr), ein Spezialist für die genetische Beschaffenheit des Saatgutes. Er hat die Welt schon einmal gerettet, wie ihm später im Film bestätigt werden wird. Und es stimmt: Die Welt hängt von ihm ab, denn der Weizen ist Atem, und das wiederum ist eine Formel, die geradezu gebetshaft rezitiert wird, immer wieder, die man auch nicht verstehen muss, um sie zu rezitieren, die aber dennoch als letzte, allerletzte Weisheit über diesem Film steht. Weizen ist Atem – ein schöner Satz, solange er nicht verstanden werden will. Und wenn es Erol gelingt, den Weizen wieder blühen zu lassen, dann ist es, als würde er der Menschheit wieder Luft in die trockenen, sehr wahrscheinlich grauen Lungen blasen. Aber Erol versteht von der Welt nicht mehr viel. Was er allerdings versteht, ist, dass er nichts versteht. Ein junges Mädchen erzählt ihm unverständliche Dinge, als denke und spreche eine Ausserirdische aus ihr. Er komme ein andermal wieder, sagt er ihr und verlässt die Szene irritierter, verwirrter als je zuvor. Das Mädchen ist die Tochter von Cemil Akman (Ermin Bravo), einem verschwundenen Genetiker, der eine grosse prophetische These zur genetischen Krise aufgestellt hat und den es nun zu finden gilt, um die Zusammenhänge zu verstehen, die die Welt an den Abgrund getrieben haben, um die Welt zu retten.

Erol begibt sich also auf die Suche. Er verlässt das Grau der Stadt, zieht hinein ins Grau der Natur, hinein ins Grau des menschlichen Geistes. Er trifft Cemil, begleitet ihn, lauscht seinen prophetischen Worten, kopiert dessen Gesten, sucht seinen Blick, sucht die Wahrheit über den Menschen. An dieser Stelle, an der sie sich begegnen, einander mit Weisheiten beschenken, kippt Kaplanoğlus Film, als würde er selbst mutieren, als würde er vom sauren Wasser vergiftet werden, das auf ihn herabregnet. Tatsächlich öffnet sich hinter den Grenzen der Stadt, im Niemandsland, in den wunderschön gefilmten Aufnahmen Anatoliens nun nicht der Raum der Weisheit, der den urbanen Raum der Politik umschliesst, der in seinen grauen, toten Weiten die grossen Zusammenhänge, die es zu finden gilt, repräsentiert, ohne ihn auszustaffieren, es öffnet sich bedauerlicherweise nur ein Raum der Platituden und der Klugscheisserei. Cemil – und hier versagen schlicht Drehbuch und Inszenierung – ist nicht der Prophet, für den ihn Erol und dieser Film halten, er ist ein Dampfplauderer, ein Besserwisser, ein Wörterschwinger.

So erzählt Grain am Ende vor allem die Geschichte seines eigenen Scheiterns. Über die Gründe, weshalb dieser Film, der einmal hochkonzentriert daran schuf, die Schattierungen einer diffusen, faschistischen Zukunft in verschiedenen Grau- und Schattenstufungen herauszuarbeiten, umschlug in ein bestenfalls ratgeberphilosophisches Geplapper über das Menschsein, lässt sich nur spekulieren. Gut möglich, dass mit den deutschen Fördergeldern auch deutsche Drehbuchvorstellungen in diesen Film einzogen und ihm eine Konkretheit belasteten, die dieser in seiner labilen Grauheit gar nicht aushalten konnte (das deutsche Filmfördersystem krankt unheilbar an der Verwechslung von Konkretheit mit Weisheit). «Alles, was im Universum existiert, existiert auch im Menschen, es gibt keine Trennung», sagt der eine einmal mit kluger Mimik zum anderen. «Also enthält alles ein Partikel vom Menschen?», fragt der andere dann wissbegierig. Das Tragische an diesem Film ist, dass Kaplanoğlu, anstatt sich von seinen labernden Figuren die Welt erklären zu lassen, dieses Mensch-Partikel-Universum-Problem, sofern es überhaupt eines ist, auf wunderbare Art auch hätte verrätseln können – mit einem einzigen Schwenk von der grauen Erde in den grauen Himmel.

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Grain | Film | Semih Kaplanoğlu | TUR-DE-FR-SWE-QAT 2017 | 123‘

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First published: May 10, 2018