Foudre

[…] Mit dem jugendlichen Idealismus, der sich an Bigotterie und Misogynie abarbeitet, schlägt Jaquier unverkennbar eine Brücke zu zeitgenössischen Diskursen.

Foudroyante, c’est certainement le cas de la caméra de Marine Atlan, laquelle soutient avec une grande sensualité un récit qui se plaît à confondre reconstruction historique et libre expression émotive. Par un montage créatif (Xavier Sirven) qui ponctue la narration avec plusieurs pauses contemplatives, Carmen Jaquier développe le thème de la libération pan-sexualiste bien au-delà des limites de l’évidente critique de la bigoterie de la montagne suisse d’antan. À ce propos, le dépassement du moralisme – et de la nécessité du cadre historique – finit paradoxalement par renforcer le motif du fanatisme religieux, en ouvrant ainsi un territoire problématique (historiquement, celui des mouvements cathares ?) qui ne semble pas pleinement assumé. En tout cas, ce premier film est la démonstration d’un grand talent de la jeune génération suisse ! Giuseppe Di Salvatore

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Schmerz ist die weibliche Erfahrung, die Foudre in seiner Eröffnungsmontage aus der Geschichte zusammenträgt. Eine Handvoll Fotografien und Malereien erzählen vom Leben der Frauen auf dem Berg. Es sind Frauen bei der Mahd, Frauen beim Trauergang, Mädchen mit gottesfürchtig gefalteten Händen. Ein spärlich zusammengetragenes Zeugnis einer tristen Vergangenheit des leidvollen Dienens. Getarnt als ein ebensolches historisches Dokument der weiblichen Erfahrung, kommt das erste Bild von Carmen Jaquiers Langfilmdebüt in seinem auf den Anfang des 20. Jahrhunderts datierten Jetzt an. Ein Mädchen blickt hinaus auf die pittoreske Alpenlandschaft. Eine Sehnsucht, die mit dem nächsten Schnitt tragisch wird: Ihre Füsse sind an den Arbeitstisch gebunden. Die Worte, die ihr Mund formt, spricht sie nicht mehr. Das in Chiaroscuro getauchte Antlitz verschwindet mit einer Schwarzblende. Als sich die Blende wieder öffnet, blickt nicht das Mädchen Innocente, sondern ihre Schwester Elisabeth (Lilith Grasmug) in die Kamera. Wie ein Spiegelbild erscheint sie im Film. Tatsächlich wird Elisabeth die Geschichte der verstorbenen Schwester als lebensbejahende Tragödie weitererzählen. Denn obschon der Film den brutalen Einzelschicksalen der Schwestern im Prolog einen historischen Beleg mitschickt, folgt Foudre nicht dem fatalistischen Pfad der Geschichte, sondern untersucht eben die Leerstellen, die sie hinterlassen hat.

Elisabeth wird, kaum dass sie die Nachricht vom Tod ihrer Schwester wahrgenommen hat, aus dem Kloster zurück in ihr Elternhaus beordert. Die jüngeren Schwestern, die Elisabeth nach der Reise schlafend im Stall finden, halten sie beim ersten Anblick für den Teufel. Der Vater dankt dem Herrn für ihre Rückkehr. Die Mutter übergibt ihr das Kleid der Schwester. Keiner von ihnen spricht über Innocente. Und doch hallen ihr Leben und ihr Ableben noch als Echo durch das Elternhaus, die Kapelle und über die Berge. Ihre Idee der Spiritualität, die im Film zur universellen Idee der Lebensbejahung reift, sickert sukzessive in diese radikal asketische Welt ein, die Sinnlichkeit, Weiblichkeit und den Leib selbst verabscheut und das irdische Leben selbst verneint, um den Blick auf das gottgeschaffene Jenseits zu richten. Es ist eine Welt gegen das Freudige, das Übermütige, das Sexuelle, die all jene zerstört, die sich jenseits der asketischen Pflichten entfalten.

Carmen Jaquier setzt dem geistlichen Schamgebot eine sexuelle, spirituelle und vorwiegend (aber nicht ausschliesslich) feminine Sinnlichkeit entgegen. Innocentes Tagebuch – Elisabeth findet es eingenäht in ihr Kleid – ist das Manifest dieser Sinnlichkeit. Ihre Worte, voll von dichterischem Pathos und jugendlichem Schmalz, stellen sich gegen die asketische Einsilbigkeit, zu der die Sprache in den Bergen verkommen ist. Ähnlich opulent wie die Symbole, mit denen Jaquier ihren Film überfrachtet (das sündige Feuer, der Gott bezeugende und dennoch verachtete Esel, der fruchtbare Ameisenhaufen, der Liebesdienst der Fusswaschung etc.), erzählen Innocentes Worte von Gott, von Sex, seinem Geschmack und seiner befreienden Kraft. Später dann von Leid, Tod, Befreiung und in dieser Befreiung wieder von Gott. Mit dem jugendlichen Idealismus, der sich an Bigotterie und Misogynie abarbeitet, schlägt Jaquier unverkennbar eine Brücke zu zeitgenössischen Diskursen.

Bevor sich das Historische dabei endgültig im Jetzt verheddert, kehrt Foudre aber zu Elisabeths spiritueller und sexueller Blüte zurück. Das Pathos in den Zeilen der Schwester und die Schwere des Symbolismus lösen sich sukzessive im ästhetischen Fieber dieser Blüte auf. Marine Atlans Bilder brennen die Sinnlichkeit in den asketischen Alltag. Als Elisabeth auf einen Baum klettert, fliesst blaues Licht durch dessen Krone auf sie und das Geäst hinab, legt sich als Schimmer über ihre Haut. Die kleine Schwester protestiert noch: Mädchen dürften nicht auf Bäume klettern. Aber das, was die Gebote von Eltern und Priestern (die für Jaquier allzeit deckungsgleich sind) untersagen, lebt allmählich in der Schönheit der Bilder auf. Leben will dieser Film, so wie Elisabeth leben will, Gott finden will, mit all den Jungs schlafen will, von denen sie im Tagebuch ihrer Schwester gelesen hat. Das transzendente Moment der sexuellen Befreiung mit seiner ungeahnten Blüte – ein Schwenk ins Pansexuelle unterstreicht es noch einmal – geht weit über den Ermächtigungskitsch hinaus. Atlans Bilder bringen das Licht auf der nackten Haut zum Glühen, bis es purpurn flackert und den Moment der Lust markiert, an den sich Elisabeth und die Jugendlichen vorsichtig herantasten. Eine Lust, die sich nicht in Unschulds- und Reinheitsnarrative eingliedert, wie der Moment, den Jaquier folgen lässt, verdeutlicht. Mit Brennnesseln streicheln die Liebenden einander die nackte Haut, erproben den Schmerz mit der gleichen Ekstase, mit der sie die Liebe erproben. Es ist ein Schmerz, der nicht Busse zum Zweck hat oder sich in die christliche Idee der Sündhaftigkeit einreiht, eine Bejahung des Leibs, den diese Welt nur als sündhaft kennt, eine Möglichkeit, frei vom Ballast der christlichen Ideen von Sünde und Schuld nackt vor den Schöpfer zu treten.

Karsten Munt

 

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Carmen Jaquier | CH 2022 | 92’ | Zurich Film Festival 2022, Solothurner Filmtage 2023, Visions du Réel Nyon 2024 | CH-Distribution: Sister Distribution
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First published: April 24, 2023