Erde
[…] Kaum einem Film gelang es in letzter Zeit besser, diesen schwer fassbaren Begriff [Anthropozän] begreiflich zu machen. Wahrscheinlich gerade deshalb, weil er ihn, statt zu erklären, einerseits veranschaulicht, andererseits – und das ist das besonders Schwierige – dessen unsichtbare Prozesse spürbar macht, die kein einzelner Mensch je in der Gänze verstehen oder gar beeinflussen können wird.
[…] Alle Beteiligten, und das sind 99 Prozent der Menschheit, sind zu Söldnern im Dienste jener Idee geworden, für die der Name «Fortschritt» nur ein unzureichender Euphemismus darstellt.
Text: Dominic Schmid

Der Titel des Films ist wie das Wort mehrdeutig und gleichzeitig irreführend. Es bezeichnet sowohl den Namen unseres Planeten als auch das Material, aus dem dieser beschaffen ist – beziehungsweise jenes Element davon, das uns ernährt und auf das wir gleichzeitig direkten Einfluss üben können. Erde ist aber kein Film über unseren Planeten, und schon gar nicht über dessen Ernährungsfunktion, sondern fast einzig über jenen letzten Teil des Wortsinns: das Material, über das der Mensch seinen Handlungsspielraum mittlerweile so weit ausgedehnt hat, dass alle anderen Definitionen in naher Zukunft keine Rolle mehr spielen werden. Homo sapiens wäre als Titel nicht weniger passend gewesen, hätte Nikolaus Geyrhalter nicht schon seinen vorletzten Film so genannt, der von ebenjener Zukunft erzählt, die trotz ihrer gespenstischen Stille eine Art von posthumanem Trost bereithält.
Erde zeigt den Menschen bei seiner zynisch engagierten und kompetenten Arbeit, den Planeten nach seinen Massstäben umzuformen und ihm seine Rohstoffe abzutrotzen. Es ist ein Vorgang, den fast sämtliche Beteiligten als Kampf wahrnehmen, der einerseits mit immer schwererem Rüstzeug – hauptsächlich gelber Farbe und mit Namen wie Caterpillar und ABB versehen – geführt wird. Wir schauen zu, wie die gelben Ungetüme unbeirrbar und konzentriert wie Ameisen Erdhaufen um Erdhaufen von einem Ort zum anderen transportieren; wie eine fast lovecraftsche Kohlenförderungsanlage ganze ungarische Landschaften umpflügt oder wie eine hochhausgrosse Bohrmaschine sich in ein österreichisches Bergmassiv hineinfrisst. 60 Millionen Tonnen Erde werden pro Tag durch natürliche geologische Vorgänge bewegt, fast das Dreifache davon durch menschliche Hand. Der Name dieses ungleichen Verhältnisses lautet Anthropozän. Kaum einem Film gelang es in letzter Zeit besser, diesen schwer fassbaren Begriff begreiflich zu machen. Wahrscheinlich gerade deshalb, weil er ihn, statt zu erklären, einerseits veranschaulicht, andererseits – und das ist das besonders Schwierige – dessen unsichtbare Prozesse spürbar macht, die kein einzelner Mensch je in der Gänze verstehen oder gar beeinflussen können wird.
Es ist dies eine der Besonderheiten von Nikolaus Geyrhalters Kino: das ungleiche Verhältnis zwischen der scheinbaren Einfachheit seiner Bildkonstruktionen und der Tragweite deren Implikationen. Die Bilder sind weder übermässig konstruiert, noch sind sie schwierig zu lesen. Der Schnitt ist gradlinig, mit kaum einer Spur von kreativen Gegenüberstellungen oder Montagesequenzen wie bei vergleichbaren Bildaneinanderreihungen zu «grossen Themen», wie etwa Koyaanisqatsi. Vom Hang zur Redseligkeit und Selbstinszenierung anderer zeitgenössischer politischer Dokumentarfilmer wie Michael Moore, Werner Boote etc. könnte Geyrhalter, selbst wenn sich die Themen nicht selten überschneiden, nicht weiter entfernt sein. Die Abwesenheit von Kommentar ist bei Geyrhalter der Kommentar. Die Bilder sprechen für sich, und sie sprechen in der Regel eine unendlich deutlichere und vor allem klarere Sprache als jedwede noch so engagierte Rhetorik.
Was bei Erde im Vergleich zu Geyrhalters früheren Filmen hingegen auffällt, ist der grosse Platz, der den Worten seiner Protagonisten zugestanden wird. Es handelt sich zwar in dem Sinne um Experteninterviews, dass jene Menschen zu Wort kommen, deren Wirken wir während des ganzen Filmes zu sehen bekommen, doch mit der Zeit fällt auf, dass im Kontext der gezeigten Prozesse der Begriff «Expertise» jegliche Bedeutung verloren hat. Die Arbeiter – es handelt sich fast ausschliesslich um Männer – geben einer nach dem anderen immer wieder fast identische Antworten auf die Fragen Geyrhalters, die in der Regel darauf abzielen, wie sie ihr Werk in Bezug auf das grosse Ganze einordnen würden. Sie sind stolz auf ihre Arbeit. Einen besonderen Eindruck in einem Bargespräch mit einer Frau könne man allemal machen, wenn man sagen könne, dass man beruflich Berge versetze. Speziell gute Worte haben sie auch alle über ihre Mitarbeiter und deren Arbeitsmoral zu verlieren. Sobald es aber um den Sinn davon gehen soll, ganze Landschaften umzuformen – sei es zur Landgewinnung in Kalifornien, zum Kohleabbau in Ungarn, dem Herausschneiden von tonnenschweren Marmorkuben in Italien –, verfallen sie alle in dieselben Floskeln: es sei halt ein notwendiges Übel, wenn sie es nicht täten, machte es halt jemand anderes. Das seien nun mal die Regeln des Marktes. Der Drang zum Fortschritt liege in der menschlichen Natur, und keine Waren mehr zu transportieren, wäre ja auch keine Lösung. Das mag zwar alles eine Form von Selbstreflexion sein, doch diese dreht sich recht eintönig im Kreis. Der Zweck, der die Mittel heiligen soll, ist hier nicht einmal mehr eine Illusion, sondern schlicht fern jeglicher Begreifbarkeit. Die unsichtbare Hand des Marktes, die mal dafür sorgen sollte, das Fortschritt, Glück und Fairness entstehen, wird zum leeren Signifikanten für eine grössere Macht, in deren Namen der Mensch die Erde neu gestaltet. Dieser ist zum Demiurg seiner eigenen Lebenswelt geworden, Anweisungen folgend, die niemand jemals gegeben hat. Zwischen Schöpfung und Zerstörung gibt es keinen Unterschied mehr.
Fast jeder – Arbeiter, Zuschauer, Mensch – ist sich bewusst, dass das, was er da tut, der Erde Schaden zufügt. Dass die Welt eine bessere, lebenswertere und vor allem schönere wäre, wenn er seine Arbeit einstellen würde. Das ist als Erkenntnis nicht allzu spektakulär, aber was Erde mit einfachen Bildern auf besondere Weise sichtbar macht, ist, dass der einzelne Mensch keine Rolle mehr spielt. Jeder folgt am Ende nur den Anweisungen der unsichtbaren Hand: der Arbeiter, der gutes Geld verdient, um seine Hypothek zu bezahlen und seine Familie zu ernähren, der CEO, der möglichst preisgünstig Kupfer abbauen will, weil die vernetzte Gegenwart halt nun mal Kupfer benötigt, der Shareholder derselben Corporation, für den die Aktien dieser Firma nur so lange von Wert sind, wie diese erfolgreicher und somit profitabler ist als die Konkurrenz. Das Anthropozän – das Zeitalter, in dem der Mensch einen grösseren Einfluss auf die Form der Erde hat als jede andere natürliche geologische oder kosmische Macht – ist ironischerweise nicht aus dem Willen des Menschen geboren, sondern aus einer Idee, einem meme, das wie ein Virus ein ungeheuerliches Eigenleben entwickelt hat. Alle Beteiligten, und das sind 99 Prozent der Menschheit, sind zu Söldnern im Dienste jener Idee geworden, für die der Name «Fortschritt» nur ein unzureichender Euphemismus darstellt. Und wenn diese Idee bereits einige Tausend Jahre alt sein mag, hat sich in den letzten 200 Jahren der Massstab um einen exponentiellen Faktor so verschoben, dass der Einfluss, den sie auf den Planeten hat, nun tatsächlich zu einem geologischen geworden ist. Früher oder später wird sie auf einer Stufe mit jenem Asteroiden stehen, der einst die Dinosaurier vom Planeten entfernt hat. Nach dem Aussterben des Menschen wird der grösste Unterschied dazu darin bestehen, dass dieselbe Erde für den äusseren Betrachter kaum mehr erkennbar sein wird.
Die Arbeiter mögen, wie sie betonen, ihren Job als Kampf gegen die Erde wahrnehmen, den sie in der Regel für sich entscheiden. Es handelt sich dabei ausnahmslos um Pyrrhussiege. Der Mensch mag jede dieser Schlachten noch so hoch gewinnen; wer den Krieg für sich entscheiden wird, steht schon seit Äonen fest.
This article contains a third-party video. If you would like to watch the video, please adjust your settings.
Watch
Screenings in Swiss cinema theatres
Info
Erde | Film | Nikolaus Geyrhalter | AT 2019 | 116’ | Bildrausch Basel 2019
Prize of the Ecumenical Jury at the Berlinale Forum 2019 | Best Sound Design Documentary at Diagonale Graz 2019
First published: September 16, 2019