Enigma

Betroffenheits-Journalismus, der reisserische «Witwenschüttler»-Porträts voller Geschrei und Geschluchze generiert, ist in Südamerika, dem Kontinent der Telenovela, sehr verbreitet. Der am Festival International de Films de Fribourg FIFF erstmals in der Schweiz gezeigte Film Enigma handelt von einem für die Medien attraktiven, weil ungelösten Gewaltverbrechen. Im Chile der späten 90er-Jahre will ein Sender den brutalen Mord an der homosexuellen jungen Erwachsenen Sandra öffentlich «aufarbeiten» und einige Szenen nachstellen. Darum wird Mutter Nancy (überzeugend zwischen überfordernder, angestauter Trauer und Alltäglichkeit: Roxana Campos) und kontinuierlich ihre gesamte Familie vom Fernsehsender drangsaliert, bei einer Show mitzumachen. Der Film des jungen chilenischen Regisseurs Ignacio Juricic Merillan aber kokettiert nicht einmal mit der Rekapitulation des Verbrechens, mit emotional überbordenden Rückblenden oder lautstarken Familienkonflikten voller knallenden Türen oder dramatischen Ohrfeigen. Sogar der Sender, eigentlich auslösendes Moment der Erzählung, bleibt ein Nebenschauplatz. Stattdessen zeigt Juricic Merillan geflüsterte Auseinandersetzung von Eltern, die das Leid wenn nicht stumm so doch streitmüde gemacht hat – und rauchwütig. Er fokussiert auf die Frauen der Familie, die sich fast so viel frisieren, wie sie rauchen. Pausenlos wuseln sie an Härchen rum oder hüllen sich in nachdenklichen Rauch ein. Diese für junge Mädchen und tüchtige Hausfrauen irgendwie anrüchige Tätigkeit ist so exzessiv wie symbolisch: Der Rauch, möchte man meinen, legt einen narkotisierenden Nebel auf die Gedanken, die Erinnerung, die Trauer und die Suche nach Gerechtigkeit. Und vielleicht ist er auch Mittel, um die Tatsache zu verstecken, die niemand wirklich aussprechen mag: Die tote Tochter, Nichte und Schwester Sandra lebte ihre Homosexualität offen aus und verkehrte in fragwürdigen Kreisen, was ihr zum Verhängnis wurde. Der erste Langspielfilm des Regisseurs leuchtet dank dem Verzicht auf Filmmusik umso deutlicher in die seit Jahren abgedunkelten Ecken der traurigen Familie, entblösst die Scheinheiligkeiten und konservativen Vorbehalte aller. Der Umgang mit Mord in der Familie lässt alle ratlos – er bleibt ein Mysterium und Rätsel – ein Enigma.

 

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Enigma | Film | Ignacio Juricic Merillan | CHL 2018 | 80' | Festival Filmar en América latina Genève 2019; FIFF Fribourg 2019

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Screenings at FIFF Fribourg 2019

First published: March 20, 2019