Ema y Gastón

[…] Emas Spiel mit dem Feuer ist mehr als bloss eine Annäherung an ihren verlorenen Sohn, dessen Spiel mit Zündhölzern ein grausames Ende fand. Es ist eine Überzeugung, der sie folgt; Ema glaubt, dass erst wenn alles niedergebrannt ist, Neues entstehen kann.

[…] So konnte Larraín seine Arbeit aus der Musik heraus entwickeln – er destilliert eine Essenz, die letztlich keine Kopie, sondern eine künstlerisch eigenständige Interpretation des Musikstils darstellt.

Text: Silvia Posavec | Audio/Video: Lena von Tscharner

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Text: Silvia Posavec | Reading: Denise Hasler | Editing: Lena von Tscharner

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«Gn-tscha gntascha, gn-tscha gntascha, gn-tscha gntascha» – ein Beat zieht sich durch Pablo Larraíns Film. Es ist der Rhythmus einer Generation. Der Herzschlag einer Frau, Schwester, Mutter und Tänzerin, die mit einem Flammenwerfer durch die chilenische Hafenstadt Valparaíso läuft, um dem Schmerz über den Verlust ihres Sohnes Ausdruck zu verleihen. Ema (Mariana Di Girolamo) und ihr Mann Gastón (Gael García Bernal) hadern mit der Entscheidung, ihr siebenjähriges Adoptivkind Polo nach einem erschütternden Vorfall wieder an die Behörden zurückgeben zu haben. In seinen Gesprächen beschuldigt und bestärkt sich das Künstlerpaar abwechselnd gegenseitig. Der Konflikt zwischen ihnen bricht immer wieder aus und durchdringt bald alle Lebensbereiche, auch ihre gemeinsame Arbeit in der Tanz-Compagnie, die für sie eine erweiterte Familie darstellt. Was denken nun andre von ihnen und geht es dem Jungen ohne sie nicht sowieso viel besser? War es ihre Schuld, haben sie das Kind verraten?

Larraín inszeniert ihren Schlagabtausch bewusst theatral und konfrontativ, indem er Ema und Gastón in nüchternem Schnitt-Gegenschnitt ihre gesamte Verzweiflung direkt in die Kameralinse sprechen lässt. Selten sieht man die beiden im selben Bild vereint, und auch ihre Dialoge klingen eher so, als würden sie lediglich aus der Erinnerung heraus rezitiert. In diesen Momenten drosselt sich das Tempo des Filmes auf ein Minimum, was Emas entfesselten Tanzszenen im Anschluss umso mehr Kraft verleiht. Sie tanzt auf der Bühne unter Gastóns Regie, vor der lodernden Projektion eines Feuerballs und mit ihren Freundinnen auf den Strassen der Hafenstadt, umgeben von Industriecharme und Graffiti.

Dabei erschafft Larraín mit Ema eher seine Vision einer Frauenfigur – überhaupt spielt zum ersten Mal einer seiner Filme in der Gegenwart, wenn nicht sogar erst in einer greifbaren Zukunft. Ema ist eigenwillig einnehmend: mit ihrem Stil, in ihrer Bewegung und in ihren Handlungen. Larraín lässt sein Publikum erst allmählich an ihrem eigentlichen Plan teilhaben. Denn Emas Spiel mit dem Feuer ist mehr als bloss eine Annäherung an ihren verlorenen Sohn, dessen Spiel mit Zündhölzern ein grausames Ende fand. Es ist eine Überzeugung, der sie folgt; Ema glaubt, dass erst wenn alles niedergebrannt ist, Neues entstehen kann. Und was sie will, ist eine neue Familie. Indem der Chilene seine Protagonistin mit einem von ihm illegal importierten Kriegsgerät ausgerüstet in den Strassen der Stadt Feuer spucken lässt, schafft er einprägsame Bilder, die metaphorisch für ihren Schmerz stehen. Gleichzeitig ist es ein an Wahnsinn grenzender Spass, der glücklicherweise nicht wie eine rein filmische Spielerei daherkommt. Es wirkt fast schon poetisch, wie die zwei Schaukeln mit Sitzflächen aus alten Autoreifen brennend nebeneinander vor sich hin schwingen – ebenso wie das Paar, das an demselben Schmerz gleichzeitig verglüht.

Fein, verspielt und furchtlos nähert sich der Regisseur nicht nur seiner starken weiblichen Hauptprotagonistin, sondern auch dem Reggaeton – einem Musikstil, den Larraín erst durch seine Arbeit an dem Film kennenlernt. Er geht nicht dokumentarisch vor, entledigt sich der sexistischen Elemente des Genres, ergänzt es durch eigenwillige visuelle Codes der Tänzerinnen und stellt Reggaeton mehr als befreiende Lebensphilosophie dar. Diesen Widerspruch zur Realität löst der Regisseur geschickt auf, indem er Gastón in einer glühenden Rede den unbeschwerten Hedonismus des «primitiven Strassentanzes» anprangern lässt. Eine Metakritik, die sich selbst erübrigt. Musikalisch arbeitete er mit dem chilenisch-amerikanischen Musiker Nicolas Jaar zusammen, der den Soundtrack noch vor Drehbeginn produzierte. So konnte Larraín seine Arbeit aus der Musik heraus entwickeln – er destilliert eine Essenz, die letztlich keine Kopie, sondern eine künstlerisch eigenständige Interpretation des Musikstils darstellt.

In Ema y Gastón sind Bild, Ton und Erzählung organisch verwoben. Pablo Larraín fügt seinem filmischen Schaffen damit eine weitere unerwartete Facette hinzu. Einen pulsierenden Tanzfilm, mit einer mysteriösen Frau im Mittelpunkt. Ema ist letztlich eine Verführerin. Ihr Charme besteht am ehesten aus ihrem zügellosen Drang nach Freiheit. Ihr Antrieb ist die Liebe, ihr Ziel ein aus Liebe geschaffenes Netzwerk, das sich von der klassischen Definition der Kernfamilie löst. Neben allen Entscheidungen, die Larraín für seine Protagonistin trifft, fühlen sich manche irritierend und ermutigend zugleich an. Eine jedoch fügt dem Film sowohl ästhetisch als auch dramaturgisch keinen nennenswerten Mehrwert hinzu: Eine in blaues Licht getünchte Sexszene führt vor Augen, was zuvor nur als getanzter Orgasmus in der Luft schwebte. Hier zeigt sie sich dann eben doch, die platte Darstellung einer lustvollen Frau.

Doch allgemein zeigt Pablo Larraín ein feines Gespür und fast schon prophetische Qualitäten. So drehte er seinen Film in derselben Hafenstadt Valparaíso, in der wenige Wochen nach Ende seiner Dreharbeiten Las Tesis zum ersten Mal auftraten. Sie sind eine Gruppe von vier Frauen, die einen feministischen Flashmob-Tanz aufführten, um auf die Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen. Aus ihrer Aktion wurde eine weltweite Bewegung, die zu Protesttanzeinlagen von Frauen auf den Strassen der gesamten Welt führte. Es ist anzunehmen, dass auch Ema und ihre Freundinnen sich in den Reihen wiederfinden würden, um mit ihren Körpern für die Selbstbestimmung desselben einzustehen.

 

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Ema y Gastón | Film | Pablo Larraín | CHL 2019 | 102’ | Filmar en América Latina Genève 2020

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First published: March 11, 2020