Eldorado

[…] Die mikroskopische Ebene im Film, d.h. das private Zurückbesinnen auf Imhoofs eigene Jugend und die prägende Begegnung mit Giovanna, unterscheidet diesen Film von vielen anderen, die man in der Zwischenzeit doch so oft gesehen hat.

[…] Die Stärke des Films liegt sicher darin, dass Imhoof hinschaut, wo oft lieber weggeschaut wird. Es ist seine empathische Haltung, die aus dem Film spricht.

Text: Ruth Baettig | Audio/Video: Lena von Tscharner

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Text: Ruth Baettig | Reading: Denise Hasler | Concept & Editing : Lena von Tscharner

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In seinem jüngsten Werk verbringt Markus Imhoof über 10 Tage auf dem Marineschiff San Giusto, das im Mittelmeer seinen Einsatz hat und öfters an Kapazitätsgrenzen stösst. Fast schon schicksalshaft mutet es an, wenn wir uns an seinen Film Das Boot ist voll zurückerinnern. Damals war der Titel des Films symbolisch gedacht, jetzt holt die Realität das Symbolische wortwörtlich ein.

In Eldorado werden viele Fäden zu einem soliden Gewebe gewoben. Diese Fäden durchziehen die persönliche Biografie Imhoofs und ermöglichen eine Reflektion darüber, wie heute Geflüchtete auf dem Mittelmeer, in Italien und in der Schweiz behandelt werden. Die mikroskopische Ebene im Film, d.h. das private Zurückbesinnen auf Imhoofs eigene Jugend und die prägende Begegnung mit Giovanna, unterscheidet diesen Film von vielen anderen, die man in der Zwischenzeit doch so oft gesehen hat. Giovanna, das Mädchen, das die Eltern des Regisseurs im zweiten Weltkrieg aufgenommen hatten, damit es sich in der Schweiz von den Qualen des Krieges im nahen Milano ein wenig erholen konnte, ist präsent mit Briefen, einer Mädchenstimme und durch Imhoofs Kinderzeichnungen, bis zuletzt, wenn er zärtlich über Giovannas Foto an der Grabplatte auf einem italienischen Friedhof streichelt. Diese sehr persönliche Herangehensweise – vielleicht manchmal etwas zu sehr strapaziert – führt im Verlaufe des Films zu den grossen Zusammenhängen über Flucht und ihre Ursachen.

Die makroskopische Ebene dringt andererseits durch die verschiedenen Überlegungen und Informationen in den Film und weist auf komplexe, verstrickte Weltverhältnisse hin, die bei Markus Imhoof und auch bei den Zuschauer*innen im Kinosaal bisweilen ein Gefühl der Machtlosigkeit aufkommen lassen. Prägend sind die ergreifenden, nicht unproblematischen Bilder auf dem grossen Marineschiff zu Beginn des Films, an die man sich nie gewöhnen will. Weiss gekleidete Menschen mit Mundschutz, deren Gesichter nur schwer als Individuum erkennbar sind, helfen, zählen, verarzten die ausgesetzten, leicht bekleideten und oft barfüssigen Männer, Frauen, Kinder, die auf dem offenen Meer in fragilen, überfüllten Booten dahingetrieben sind und nun in den riesigen Schiffsbauch aufgenommen werden. Hier geht Imhoof nahe ran, vielleicht manchmal gar zu nahe ... Irgendwie ist man dann erst mal erleichtert und froh, dass die weissen Gestalten nette Worte finden. Doch man ahnt und weiss, die Reise ins Eldorado – das goldene Land – wird noch lange dauern. Menschen werden zu einer Menschenmasse, sie müssen nummeriert, registriert und zugeordnet werden, das wird aus Europa gefordert, von den Menschen auf der anderen Seite.

Der Film nimmt uns dann auch mit auf eine Reise vom Festland in Italien bis in die Schweiz, wir treffen auf Menschen, sehen Bilder, hören Stimmen. Die Information trifft hart, wenn Imhoofs Stimme lakonisch informiert, dass diese Schiffe seit 2014 ihren Dienst eingestellt haben beziehungsweise nun in libyschen Gewässern die Menschen in ihren Booten nach Libyen zurückschicken. Warum entzieht man den flüchtenden Menschen jegliche Tätigkeit und nährt so ein kriminelles System? Auch sonst läuft einiges falsch, wenn wir erfahren, dass Produkte durch EU-Subventionen so viel günstiger werden, sodass es in gewissen Ländern nicht mehr möglich ist, diese selber zu produzieren. Diese Situation zeigt Imhoof kurz und bündig am Beispiel eines Bauern aus Senegal, der mit 3000 Schweizer Franken als Startkapital in der Tasche freiwillig zurückkehren wird. Hoffnungsvoll und dankbar blickt er in seine neue Zukunft in seinem Heimatland. Mit diesem Geld will er zwei Kühe kaufen. Damit könnte er leben, wenn eben nicht ein paar Monate später Milch dank EU-Subventionen so günstig nach Afrika exportiert wird, dass die eigene Milch zu teuer wird. Und so geht es mit vielen anderen Produkten.

Die Stärke des Films liegt sicher darin, dass Imhoof hinschaut, wo oft lieber weggeschaut wird. Es ist seine empathische Haltung, die aus dem Film spricht. Dabei verliert er nie den Blick für das Zusammenwirken des Kleinen und des Grossen, wenn er die humanitäre Krise aufzeigt, in der wir stecken. Man spürt sein Anliegen, die Zuschauenden ins Mitdenken einzubinden, auch dadurch, dass er immer wieder die Frage nach dem „Ich“ und dem „Wir“ aufwirft. Geflüchtete gehen uns alle an. Nicht zuletzt gewinnt man auch den Eindruck, es gäbe noch viel Potenzial, in diesen oft sackgassenartig anmutenden Situationen neue Wege zu finden.

Mit den Bildern am Schluss auf den Planeten Erde und dem Zitat von Steve Jobs wird noch einmal untermalt, was dem Film zugrunde liegt: «Wenn ich in der Dunkelheit die grünen Lämpchen der Lebenserhaltung beobachte, fühle ich im mechanischen Brummen dieser Maschinen den Atem des Todes auf mich zukommen. Jetzt weiss ich, dass wir uns komplett andere Fragen stellen müssen, die mit Reichtum nichts zu tun haben. Zwischenmenschliche Beziehungen, auch die Träume unserer Kindheit. Was ich jetzt noch mitnehmen kann, sind Erinnerungen, die auf Liebe basieren. Das ist der wahre Reichtum.»

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Eldorado | Film | Markus Imhoof | CH-DE 2018 | 91’ | Locarno Festival 2018, Human Rights Film Festival Zurich 2018, Solothurner Filmtage 2019

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First published: March 17, 2018