DOM

[…] Das Exil ist also kein Ort, sondern ein Zustand und ein erbarmungsloser Prozess mit offenem Ausgang. Svetlana Rodinas und Laurent Stoops Langzeitbeobachtung bringt diese unangenehmen Wahrheiten zutage.

Zentralbahnhof Tiflis: Eine junge Frau steigt aus dem Zug und wird am Bahnsteig von einem Freund erwartet. Sie ist erschöpft und immer noch angespannt von der Reise, wirkt beinahe abwesend. Ihre Flucht aus Russland musste schnell gehen und war so überstürzt, dass die Journalistin selbst bei ihrer Ankunft im sicheren Georgien noch nicht ganz begreift, dass für sie gerade eine neue Zeitrechnung anfängt. Am Anfang von DOM begleiten wir sie auf ihren ersten Schritten in einen neuen Lebensabschnitt. Als Reaktion auf den russischen Grossangriff auf die Ukraine im Februar 2022 flohen viele oppositionelle Russ:innen nach Georgien. Der Dokumentarfilm von Svetlana Rodina und Laurent Stoop gibt ihnen ein Gesicht und zeigt ihre turbulente Ankunft im Exil.

Konkret bedeutet das Ankommen erst mal die Unterbringung in einer Notunterkunft, die in Tiflis von anderen aus Russland geflüchteten Personen mehr spontan improvisiert als geleitet wird. Es ist eine kleine Schicksalsgemeinschaft von Abtrünnigen, die auch in Georgien ein Schattendasein fristet. In Russland lebten sie in ganz unterschiedlichen Regionen, waren Blogger:innen, Journalist:innen, Aktivist:innen und in oppositionellen Gruppen und NGOs engagiert, hatten Familien und Freunde. Im Zeitpunkt, zu dem sie in Tiflis zusammenkommen, haben sie ihr «dom», russisch für «Zuhause», zurückgelassen. Das verbindet sie ebenso wie die Überzeugung, sich gegen Putins Regime gestellt zu haben.

Wie bereits in demjenigen vom Regie Duovorhergehenden Dokumentarfilm Ostrov – Lost Island, in dem das beschwerliche Leben einer abgelegenen russischen Inselgemeinschaft im Kaspischen Meer im Mittelpunkt stand, gelingt es dem eingespielten Regieduo Svetlana Rodina und Laurent Stoop auch in DOM, einen direkten Zugang zu einer – aus berechtigten Gründen – vorsichtigen und verschlossenen Gruppe russischer Oppositioneller zu finden. Die Filmemacher beweisen mit ihren Sujets ein gutes Gespür für die relevanten, aber zu wenig beachteten Themen unserer Zeit. Ihre Filmarbeit ist reduziert, zurückhaltend und legt den Fokus immer pragmatisch auf ihre Protagonist:innen. Dabei halten sie sich im Hintergrund, erzwingen keine politischen Aussagen, lassen die Situationen sich selbst erklären und greifen auch sonst nicht in das Geschehen ein.

Vielmehr ist es das mörderische Kriegstreiben in der Ukraine, das sich wie eine alles dominierende Kraft ausbreitet und den Alltag der Menschen einnimmt. Auf das Massaker von Butscha reagieren die jungen russischen Aktivist:innen mit einem lauten öffentlichen Protest in Tiflis, bei dem sie sich mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen auf den Boden legen; als ein oppositioneller Rechtsanwalt in Russland plötzlich verschwindet, starten sie aus ihren spärlich eingerichteten Zimmern im Exil heraus eine telefonische Suchaktion, und als nach der russischen Mobilmachung plötzlich Tausende von Menschen aus Russland nach Georgien ausreisen wollen, bereiten sie sich darauf vor, einige von ihnen aufzunehmen. Die Szenen, in denen aus diesen ins Exil gezwungenen jungen Menschen eine solidarisch handelnde Gemeinschaft entsteht, geben Hoffnung und lassen den Krieg kurz in den Hintergrund treten.

Aber mit der Zeit werden gemeinsame Aktionen seltener, und die zermürbende Gewalt der andauernden Auseinandersetzung nagt auch an der Verfassung der Exilruss:innen. Immer öfter trifft man sie auf ihren Etagenbetten liegend und die immer gleichen Themen diskutierend, am Handy die neuesten Nachrichten verfolgend oder wortlos an ihren Küchentischen sitzend an. Im Exil zu leben, bedeutet auch, zur Untätigkeit verdammt zu sein. Wenn an eine Rückkehr nicht zu denken ist, bleibt dann nur das Weiterziehen? In den ersten Szenen findet noch ein reger Austausch in grösseren Runden statt, gegen Ende werden es immer weniger Protagonist:innen, die vor die Kamera treten. Auch wenn die notgedrungene Konzentration auf einzelne Personen ihnen mehr Raum gibt, über ihre persönlichen Fluchtgründe zu sprechen, ist eine Entwicklung deutlich spürbar: Irgendwann sind ihnen ihre Handlungsoptionen ausgegangen. 

Die treffendste Beschreibung der Situation kommt von einer der Protagonist:innen selbst. Die engagierte Frauenrechtsaktivistin, die sich in ihrer Rolle als gewissenhafte und reflektierte Ankunftshelferin hervorgehoben hat, bemerkt in einem Moment das ausgeweidete Plüschspielzeug ihres Hundes und kommentiert es mit dem ironischen Kommentar, es sei den ganzen Weg mit ihnen aus Russland gekommen, nur um hier weiterhin ausgenommen zu werden – ebenso wie die russische Opposition.

DOM erzählt nicht, wie in der ersten Szene vielleicht erhofft, von dem Auffinden einer neuen Heimat im Exil, auch wenn man es den mutigen Aktivist:innen gewünscht hätte. Für sie erweist sich ihr Heimatland Russland wie eine negative Kraft, die sie, egal wo sie sind, jederzeit heimsuchen kann. Ihre Identität wird auf die Farbe ihres Reisepasses reduziert, auf eine Nation, die nicht willkommen geheissen wird, von der sie sich aber nicht lossagen können. Als eine ins Abseits geratene Opposition haben sie nur sich selbst, und das auch nur so lange, wie es ihnen gelingt, allen Fliehkräften standzuhalten. Das Exil ist also kein Ort, sondern ein Zustand und ein erbarmungsloser Prozess mit offenem Ausgang. Svetlana Rodinas und Laurent Stoops Langzeitbeobachtung bringt diese unangenehmen Wahrheiten zutage.

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First published: February 10, 2025