Dogman

[…] Mit dem weitgehend unbekannten Schauspieler Marcello Fonte ist Garrone eine Entdeckung gelungen. Wie kein Zweiter verleiht er seiner Figur, die auch nicht ganz vor Stereotypie gefeit ist, einen sehr charakteristischen Anstrich.

[…] Die harte Sozialkritik ist ästhetisch zu pittoresk, zu perfekt. Da hat in «Gomorrah» das grelle Tageslicht der Realität noch «besser» geblendet, an Dokumentarfilm erinnert und auf die Pickel der Kinderdealer-Darsteller gebrannt.

Nur die Hunde, die bei Hundecoiffeur Marcello leben, führen kein sprichwörtliches Hundeleben. Liebevoll pflegt er sie, ja föhnt den wildesten Kampfhund in wonnige Ekstase. Doch sind sie es auch, die statuenähnlich und mit langen (Hunde-)Gesichtern Zeugen seiner Abwärtsspirale in die Gewalt und Kriminalität werden. In Dogman, dem neusten Film des italienischen Regisseurs Matteo Garrone, geht es nämlich um nichts anderes als die soziale Hackordnung in der Dorfgemeinschaft und speziell unter Männern.

Marcello ist ein schlaksiger, feingliedriger und kleiner Typ mit sympathisch ungleich grossen Schaufelzähnen, einem Ansatz zum Buckel und einem unzerstörbaren, ja kindischen Enthusiasmus, der sich vor allem gegenüber Tieren und seiner Tochter äussert, mit der er gerne aus dem Alltag abtaucht ins Meer. Man ist versucht, hier die David-und-Goliath-Analogie zu gebrauchen, denn Freund Simone ist ein Pitbull im Vergleich zu Marcello, der ein Schosspudel oder lustiges Chihuahua-Hündchen sein könnte. Simone ist grobschlächtig, einsilbig, breit und gross. Mit rasiertem Kopfhaar und einer Uncle-Sam-Bomberjacke lärmt er auf einem lauten Motorrad in der Stadt herum und benimmt sich borderline-mässig delinquent. Er ist die Inkorporation eines Typen, der überall aneckt. Aber: Er gibt den Ton an und ist stadtbekannt als bunter Hund, der mindestens ein Problem mit Koks hat, das ihm Marcello, oder «Marcellino» wie er ihn despektierlich nennt, verkauft. Er verprügelt rumänische Gastarbeiter, einen Drogenboss, dem er 5000 Euro schuldet, und verdient sich sein Geld mit Einbrüchen. Schliesslich bricht er via Marcellos Hundesalon ins Nachbarsgeschäft ein, einen Gold-An- und Verkauf. Obwohl Marcello zum ersten Mal deutlich Nein sagt zum Freund, der ihn fasziniert und gleichermassen ängstigt, hat sich dieser den Raub in den Kopf gesetzt. Die Kraft des Stärkeren ist ausschlaggebendes Argument, dass Marcello den Schlüssel rausrückt und als Schuldiger ins Gefängnis muss. Er will Simone nicht verraten und ihn sich vom Hals schaffen, wie es die wild gestikulierende Männerrunde des Dorfes mit Hang zur Selbstjustiz schon länger versucht. Denn Simone hat Marcello mit einer Beuteentschädigung geködert, auf die der Hundefrisör blauäugig gehofft hat und die er sich mit neu erlernten Gefängnismethoden wieder zurückzuerobern versucht. Die Freundschaft artet aus in einen Überlebenskampf zugunsten des listigen, schmächtigen Marcello. Er, der im Dorf in Ungnade gefallen ist, schleift seine leblose Beute durchs Städtchen, um sie zu präsentieren wie eine Trophäe. Er bleibt aber allein in der verrosteten, verregneten Spielplatzarena hocken. Ganz nach dem Motto: Den Letzten beissen die Hunde.

Der neuste Spielfilm Garrones ist sein vierter Film, der am Filmfestival Cannes gezeigt wurde. Für Gomorrah (2008) und Reality (2012) erhielt Garrone den Publikumspreis. Seine Eskapade ins symbolistisch-absurde Historien-Fantasy-Märchen (Tale of Tale, 2015) mit hochkarätigem Hollywoodcast wie Selma Hayek und Vincent Cassel wurde nicht mit einer Auszeichnung geehrt. Nun hat sich Garrone erneut (und zum Glück) auf einen italienischen Stoff berufen, nämlich auf ein eigenes Drehbuch, das an die wahre Geschichte eines Hundepflegers angelehnt ist, der in einem römischen Aussenquartier zum Mörder wurde. In Cannes erhielt er dafür die Palme d’Or für den besten Hauptdarsteller und sein Film ist die italienische Eingabe an den Oscars.

Mit dem weitgehend unbekannten Schauspieler Marcello Fonte ist Garrone eine Entdeckung gelungen. Wie kein Zweiter verleiht er seiner Figur, die auch nicht ganz vor Stereotypie gefeit ist, einen sehr charakteristischen Anstrich. Sein Gesicht spricht Bände, aber auch seine Körperhaltung. Kein Wunder also, nennt ihn Regisseur Garrone im FilmBulletin-Interview einen «mordenden Buster Keaton». IndieWire spricht indes von einer Kreuzung aus Peter Lorre und Buster Keaton. Variety hingegen bezeichnet Marcellos «Tränensack-verzierte Augen, die mit bittender Unschuld in die Welt schauen», als Teil einer Figur, die die « Wiedergeburt Michael Corleones als deprimiertes Hundebaby» verkörpert.

Wie dem auch sei: Der Film braucht keine ausschweifenden Dialoge. Selbst wenn Fontes neapolitanischer Dialekt mit seinem melodiösen Maschinengewehr-Stakkato süchtig machen könnte. Garrone scheint wieder in seinem Element, bei seinem Erzählstil angelangt zu sein. Denn dem Neapolitanischen haftet auch eine soziale Komponente an: Der ausgeprägte Dialekt wurde in Italien nicht als offizielle Minderheitensprache akzeptiert, mit der Begründung, dass es sich um einen Dialekt der Unterschicht handle. Dogman begibt sich mitten in diese Unterschicht hinein, die er schon mit der Verfilmung von Roberto Savianos Mafiarecherchen im Film Gomorrah von 2008 aufzeigte. Und wem sich die Szene der pubertierenden Jungs, die in Unterhosen sinnlos mit dem Maschinengewehr den Flusslauf zuballern, ebenso ins Gedächtnis eingeprägt hat, dem kommt vielleicht auch die Szenerie in Dogman etwas bekannt vor. Beide Filme sowie auch L’imbalsamatore (2002) hat Garrone im nördlich von Neapel gelegenen Villaggio Coppola gedreht. Die in den sechziger Jahren auf geschütztem Terrain unerlaubt erbaute Touristensiedlung beherbergt heute viele unregistrierte Bewohner und Besetzer. Insbesondere der näher am Meer gelegene Teil, Parco Saraceno, ist besorgniserregend baufällig und diente Garrone als Kulisse. Die Geisterstadt mit Umgebung hat auch schon andere Regisseure angelockt, mehrheitlich, um italienische Geschichten über Morde zu erzählen. Somit ist das soziale Drama perfekt in einer realen Kulisse verortet, die mit authentischen Charakterköpfen gefüllt ist, wenn auch das Thema Immigration ausgeklammert wird. Auch passen die Stimmungsbilder der heruntergehundeten Stadt mit ihren Einwohnern.

Doch irgendwie ist es zu viel des Guten. Das soziale Drama ist fast hyperrealistisch, will heissen, die Stimmungsbilder dieser defekten Architektur sind zu stimmig. So entwickeln die in Blau oder Beige getauchten Bildimpressionen eine entspannende Wirkung nach den zunehmenden Gewaltorgien zwischen Marcello und Simone. Und die Hunde verkommen hierbei zur schönen Metapher über Tiere, die die besseren Menschen sind. Die harte Sozialkritik ist ästhetisch zu pittoresk, zu perfekt. Da hat in Gomorrah das grelle Tageslicht der Realität noch «besser» geblendet, an Dokumentarfilm erinnert und auf die Pickel der Kinderdealer-Darsteller gebrannt. Irgendwie hat diese durchaus gelungene Wahl der Lokalität einen fahlen Nachgeschmack nach Slumtourismus – wahrscheinlich ist das aber ein unlösbarer Konflikt für Spielfilme ganz im Allgemeinen, zumindest für solche, die Anspruch auf eine reale Kulisse haben – denn das ist ja ein wortwörtlicher Widerspruch.

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Dogman | Film | Matteo Garrone | IT-FR 2018 | 102’ | Festival du film français d’Helvétie Biel/Bienne 2018, Zurich Film Festival 2018

Best Actor for Marcello Fonte at Cannes Festival 2018

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First published: September 28, 2018