Dimitri Stapfer & Benjamin Burger | Das Maddock Manifest

[…] In der psychedelischen Ästhetik des Kinos – und auch dank Wolfgang Weigls buchstäblich «kubistischem» Schnitt – unternimmt der Protagonist eine metaphysische Reise in die eigene Vorstellungskraft, eine Reise, die eines Don Quijote ohne Sancho Panza würdig ist.

[…] «Das Maddock Manifest» ist ein Film über das Begehren – sei es Sehnsucht oder Verlangen.

Text: Giuseppe Di Salvatore | Audio/Video: Ruth Baettig

Podcast

Q&A nach dem Film

Gespräch an den Solothurner Filmtagen 2022 vor und mit dem Publikum, Dimitri Stapfer, Benjamin Burger und David Fonjallaz | Moderation: Giuseppe Di Salvatore

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Das Motiv der Wüste ist nicht neu im Kino. Für seinen ersten Film dekliniert der Schauspieler Dimitri Stapfer das Motiv im Theater und schliesst das Publikum von ihm aus. Der absolute Protagonist von Das Maddock Manifest – ein grossartiger Benjamin Burger, dessen gleichnamiges Theaterstück Stapfers Film nicht wenig dramaturgischen Stoff geliefert hat – findet sich ohne Publikum in einer künstlerischen und existenziellen Isolation wieder. Wenn man nicht für ein Publikum Darsteller ist, spielt man für sich selbst, für die ganze Welt oder für die Nachwelt – oder bereitet sich darauf vor. In diesem Film weht ein kosmischer, postapokalyptischer Wind, und die Zeit steht still wie in einem Lockdown ohne Fernsehen oder Internet. Wir befinden uns in den 1990er-Jahren und gleichzeitig in der Gegenwart, im Kino Roxy in Birsfelden.

In der psychedelischen Ästhetik des Kinos – und auch dank Wolfgang Weigls buchstäblich «kubistischem» Schnitt – unternimmt der Protagonist eine metaphysische Reise in die eigene Vorstellungskraft, eine Reise, die eines Don Quijote ohne Sancho Panza würdig ist. Das Objekt, das die Verbindung zur Realität sichert – der Sancho Panza –, ist eher ein altes Bakelit-Telefon – ohne Drehscheibe. Am anderen Ende der Leitung ist aber nur eine anonyme Stimme zu hören, die von Enigma, einer deutlich weniger rationalen Version von Kubricks Hal 9000. Doch scheint Enigma in der Lage zu sein, den Protagonisten tief zu berühren, ihn aus seinem Defätismus zu wecken und für die Zuschauer:innen das Knäuel von Symbolen zu entwirren, welche fest im Absurden verankert sind. Wir wären in der spielerischen Pedanterie eines Samuel Beckett gefangen, wenn nicht ein kleiner Hund vom Trottoir hereinlugen und vor allem ein riesiger Plastikfisch lächelnd in der Luft schwimmen würde. Mehr als Symbole sind sie Symptome des Anderen und eines äusseren, realen Lebens, die den Protagonisten aus seiner solipsistischen Spirale herausholen – welche so gut durch die kurze Tiefenschärfe der Kamera von Simon Bitterli eingefangen wird. Das Maddock Manifest ist ein Film über das Begehren – sei es Sehnsucht oder Verlangen.

Dann wird das Innere zum Äusseren, der Traum zur Wirklichkeit, und im Schnee eines Tessiner Tals träumt oder erinnert sich der Protagonist an das Kino, der kleine Hund wird zur Frau, sogar zur Partnerin. Auch wenn wir berechtigterweise daran zweifeln, dass wir alle Fäden des surrealen Geflechts, in dem sich der Film entwickelt, verfolgen können, taucht eine Frage doch deutlich auf, die im Mittelpunkt der Geschichte ihren Platz einnimmt: Ist Veränderung notwendigerweise auch Zerstörung oder nicht? Eine wirklich offene Frage. Die Leidenschaft für eine echte Veränderung ist der Kern des Manifests des Künstlers Hermann Maddock, von dem der Film inspiriert ist, aber die tatsächliche Möglichkeit einer echten Veränderung bleibt eine unbeantwortete Frage. Mit Das Maddock Manifest schreiben Dimitri Stapfer und sein Team ein Manifest, das Fragezeichen zelebriert und mutig wagt, ein exploratives, nicht einvernehmliches, vielleicht nicht perfektes, aber spielerisch obsessives und obsessiv spielerisches Kino zu machen, in dem das Spiel buchstäblich an einem Staudamm getrieben wird.

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Screenings in Swiss cinema theatres and on Play Suisse 

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Das Maddock Manifest | Film | Dimitri Stapfer | CH 2022 | 83’ | Solothurner Filmtage 2022

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First published: January 30, 2022