Dear Beautiful Beloved
[…] Sie alle sind echt, sind vor Ort, haben neue Gemeinschaften und flexible Netzwerke gebildet und beweisen so eine enorme Resilienz.
[…] «Dear Beautiful Beloved» ist ein Stück Zeitgeschichte, das sich mit einer klaren humanistischen Haltung an ein sensibles Thema wagt und sich seinen Protagonist:innen mit sehr viel Empathie nähert.
Text: Silvia Posavec
Ein Mann in Uniform und mit blauen Plastikhandschuhen greift behutsam mit beiden Händen nach einem Gegenstand auf dem Boden. Die fixe Kamera filmt aus der Froschperspektive, sie ist nahe dran. Im Hintergrund stehen Soldaten um eine weisse Plane, die auf den Trümmern eines Hauses ausgelegt wurde. Sie sind umzingelt von dem, was vor der russischen Invasion vermutlich ein ruhiges ukrainisches Dorf war. Es dauert einen Moment, dann erkennt man in den Händen des ersten Mannes ein abgetrenntes Bein, an dem noch ein Schuh hängt. Nach seiner sorgsamen Bergung wird es zu den anderen Knochen getragen. Doch die Männer sind sich uneinig, ob das Bein zum Verstorbenen im Leichensack gehört. Man hört sie kurz diskutieren. Sie vergleichen die Sohlen, die Beschriftung der Schuhzunge und kommen zum Schluss, dass die Skelettteile zusammengehören müssen. Sorgsame Routine inmitten eines zermürbend grausamen Kriegsalltags.
Diese Szene ist nur ein Beispiel für die Beobachtungen, die der ukrainische Regisseur Juri Rechinsky in seinem Dokumentarfilm Dear Beautiful Beloved mit seinem Publikum teilt. Er begibt sich mit seinen zwei Kameramännern Serhiy Stefan Stetsenko und Serafin Spitzer im Sommer 2022 für ein Jahr und insgesamt 60 Drehtage in eine Zone kurz hinter der russisch-ukrainischen Front. Hier spielen sich täglich stille Dramen ab, die die Ukrainer:innen und internationale NGO-Mitarbeitende mit einer überraschend nüchternen Routine absolvieren. Neben den Menschen, die sich um die Bergung, den Transport und die Bestattungen der gefallenen Soldat:innen und getöteten Zivilist:innen kümmern, werden auch alte und kranke Personen sowie Mütter mit ihren Kindern bei ihrer Evakuation mit der Kamera begleitet. Sie bilden eine unfreiwillige Gemeinschaft derer, die man als die Verwundbarsten unserer Gesellschaft zusammenfassen kann. Dear Beautiful Beloved gibt ihnen den Raum, für sich selbst zu stehen, die ruhige, aber bestimmte Führung der Handkamera unterstützt sie dabei.
Wir begegnen einer Mutter auf der Flucht, die auf die Frage, wohin sie denn fliehen will, keine Antwort hat, und einer alten Frau, die zum ersten Mal im Leben mit dem Zug fährt, noch nie ihre Heimat verlassen hat, sowie einer jungen Tänzerin und ihren älteren Kameraden, die im Kriegsdienst bis spät in die Nacht mit einem Sprinter Leichname transportieren. Sie alle sind echt, sind vor Ort, haben neue Gemeinschaften und flexible Netzwerke gebildet und beweisen so eine enorme Resilienz. Doch hält der Filmemacher bewusst auch eine Distanz zu den Protagonist:innen. Die Personen bleiben anonym, ihre Biografien sind nicht relevant. Auch diese Entscheidung führt dazu, dass sich alles Geschehen im Film auf ihre Gegenwart fokussiert. Es findet eine Entkoppelung von politischen Dimensionen statt, durch die Juri Rechinskys Dokumentarfilm eine Universalität bekommt. Gleichzeitig gleiten seine Beobachtungen durch die Zeit. Es gibt keine künstlich erzeugte Dramaturgie, kaum Ortsbezeichnungen und keine zeitdefinierenden Fest- und Feiertage. Die Handlung ist vollkommen losgelöst, es herrscht ein subtiles Vakuum in dieser Kriegszeit.
Juri Rechinskys Dokumentarfilm vermittelt ein Gefühl für den Zustand, in dem sich die Menschen befinden. Und auch wenn er sich als Autor – in der Tradition des Direct Cinema – stark zurücknimmt, ist eine deutliche Handschrift zu erkennen. Einerseits sind seine Einstellungen sehr bewusst gewählt, so etwa in der Fundszene, die einem die leiblichen Überreste eines Verstorbenen beinahe zu nah kommen lässt. Ein kalkulierter Schock, aufgefangen durch die strenge Setzung der Kameraeinstellung. Andererseits ist es dann wieder die bewegte Kameraführung selbst, die in den richtigen Momenten einen deutlichen Schritt zurück macht, anstatt einer voyeuristischen Versuchung nachzugeben. So wird ein verzweifelter Moment dokumentiert, in dem eine notplatzierte alte Frau mit Worten ringt, um den Verantwortlichen ihre Situation zu erklären. Als das Gespräch sich zuspitzt, rückt der Kameramann zur Seite und unterbricht den direkten Blick der Kamera auf sie. Es bleibt ein intensiver Moment, in dem die Not dieser Frau radikal offengelegt wird, doch wird sie in ihrem Leid nicht zur Schau gestellt. Die Szene wird zu einer eindringlichen Erfahrung, die die Filmcrew mit ihrem Publikum teilt.
Dear Beautiful Beloved ist ein Stück Zeitgeschichte, das sich mit einer klaren humanistischen Haltung an ein sensibles Thema wagt und sich seinen Protagonist:innen mit sehr viel Empathie nähert. Durch diese alle Ebenen der Erzählung durchdringende Haltung vermittelt sich auch ein hoffnungsvolles Bild. Dear Beautiful Beloved ist in gewisser Weise ein Akt des Widerstandes, der selbst in den dunkelsten Momenten in den Begegnungen mit diesen Personen die Menschlichkeit in den Vordergrund stellt. Seine Weltpremiere feierte Dear Beautiful Beloved in der Semaine de la critique am Locarno Film Festival 2024.
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Info
Dear Beautiful Beloved | Film | Juri Rechinsky | AT 2024 | 93’ | Locarno Film Festival 2024, Semaine de la critique
First published: September 03, 2024