Das Kino Südostasiens | Kurzfilmtage Winterthur

[…] Dieser Miteinbezug der Unterwelt, des Jenseitigen, das in der westlichen Hemisphäre in der Regel klar vom Lebendigen getrennt ist – die Begriffe selbst machen es schon deutlich – lässt sich durchaus als zentral für die Ästhetik dieses Kinos begreifen, wobei sich die Mittel dazu, nicht nur zwischen den verschiedenen Nationalitäten, oft drastisch unterscheiden.

[…] Weit entfernt von einer kulturanthropologischen Studie scheint der Film selbst [«The Living Need Light, the Dead Need Music»] eine Art Ritual zu performen, die Zusammenkunft der beiden Welten in einem filmisch-musikalischen Fest zu feiern, das die Thematik von jeglicher Unheimlichkeit befreit.

[…] Die starke Konzentration auf die Tonspur, sowie die sanfte Manipulation des Bildmaterials – hier eine Zeitlupe, anderswo ans surreale grenzende Farbkorrekturen – demonstrieren anschaulich, mit welcher Natürlichkeit dieses Kino sich als moderne Geisterbeschwörungsmaschine versteht.

The Living Need Light, the Dead Need Music lautet der Titel eines vietnamesischen Kurzfilms, der als einer von 35 Beiträgen im südostasiatischen Schwerpunkt der diesjährigen Kurzfilmtage Winterthur im Programm lief. In extremer Verkürzung und etwas vereinfacht kann man sagen, dass dieser Titel die thematischen Obsessionen dieses faszinierenden Kinos zusammenfasst, das gleichzeitig von einer unglaublichen Lebendigkeit auf allen Ebenen geprägt ist, als auch dem Tod – oder besser: den Toten – stets eine zentrale Position in den verschiedenen abgebildeten Realitäten zugesteht. Dieser Miteinbezug der Unterwelt, des Jenseitigen, das in der westlichen Hemisphäre in der Regel klar vom Lebendigen getrennt ist – die Begriffe selbst machen es schon deutlich – lässt sich durchaus als zentral für die Ästhetik dieses Kinos begreifen, wobei sich die Mittel dazu, nicht nur zwischen den verschiedenen Nationalitäten, oft drastisch unterscheiden. So sind dann die verschiedenen Programmblöcke innerhalb der südostasiatischen Programmgruppe auch nicht nach Herkunftsland – die Filme kommen aus Thailand, Vietnam, Indonesien, Malaysia, Singapur und den Philippinen – sondern nach Thematik sortiert: Jugend, Familie, Sexualität, Erinnerung, Gespenster und einem Mitternachts-Genreblock namens „Fuck the World!“ Und wie es bei gut gestalteten Kurzfilmprogrammen oft der Fall ist, kommunizieren die Filme miteinander, tragen Dialoge und Argumente über verschiedenste geographische, ästhetische und thematische Ebenen hinweg.

Licht und Musik, die Hauptbestandteile des Films, werden also eingesetzt, um das Unsichtbare sichtbar zu machen – an sich generell die Hauptaufgabe des Kinos, hier aber von umso grösserer Dringlichkeit, als dass der Alltag von diesem Unsichtbaren durchdrungen ist. Am deutlichsten wird dies naturgemäss in „Phantom Traces,“ dem Geister-Themenblock, wobei allen Zuschauern, die etwa mit Apichatpong Weerasethakuls Uncle Boonme (zu dem eine Art Vorstudie im Programm vertreten ist) vertraut sind, klar sein sollte, dass diese Geister wenig bis gar nichts mit jenen der westlichen Gothic-Tradition gemeinsam haben, sondern Teil des allgemeinen Realitäts- und Geschichtsverständnisses sind. So ist The Living Need Light, the Dead Need Music eine hypnotische Studie verschiedener Begräbnistraditionen Südvietnams, in Zeitlupe gefilmt, begleitet von den Klängen einer Blaskapelle. Man sieht exzentrische Rituale, die die Toten zu ihrer neuen Existenz begleiten sollen; ein Mann zieht sich eine Schlange durch seine Nase und seinen Mund, Frauen balancieren Schwerter auf ihren Gesicht oder spucken Feuer. Weit entfernt von einer kulturanthropologischen Studie scheint der Film selbst eine Art Ritual zu performen, die Zusammenkunft der beiden Welten in einem filmisch-musikalischen Fest zu feiern, das die Thematik von jeglicher Unheimlichkeit befreit. Die starke Konzentration auf die Tonspur, sowie die sanfte Manipulation des Bildmaterials – hier eine Zeitlupe, anderswo ans surreale grenzende Farbkorrekturen – demonstrieren anschaulich, mit welcher Natürlichkeit dieses Kino sich als moderne Geisterbeschwörungsmaschine versteht.

Im philippinischen Beitrag If You Leave unterhalten sich zwei Geisterjäger, die per Video ein angeblich spukendes Haus überwachen sollen, darüber, wie klischiert die verschiedenen Aber- und Geisterglauben schon geworden sind. «White ladies, lost spirits, unfinished business bullshit, dwarves, aswangs, all the same». Selber scheinen sie an gar nichts zu glauben, das tagelange Starren auf einen Videobildschirm ein Job unter vielen. Dass es das Aufnahmemedium selbst ist, von dem hier das Unheimliche ausgeht – dass die zahlreichen Artefakte im von der billigen Videokamera aufgenommenen Bild etwa ein Eigenleben entwickeln, wollen sie beide nicht wahrhaben. So verlagert sich der Spuk noch um eine Ebene weiter nach oben und macht If You Leave mit verstörenden Tonmanipulationen selbst zum Horrorfilm, ohne dass dies seine Protagonisten mitbekommen. So ist die Frage nach dem Übersinnlichen immer auch die Frage, von welcher Ebene aus etwas betrachtet wird, und dass die seltsamen Muster nicht zu erkennen – wie in der Synopsis zum Film proklamiert wird – noch lange nicht bedeutet, dass diese auch nicht da sind. Solange es Geschichten gibt, wird es also Geister und Monster geben, wenn sie auch in unterschiedlichster Funktion eingesetzt werden: als deutliche Allegorie auf aktuelle politische Vorkommnisse wie im thailändischen Zombiefilm Hitchhikers, in dem sich eine Lastwagenladung erstickter Flüchtender als wiedergekehrte Zombies gegen ihre Schlepper wenden; als manifestierte Trauer in Kekasih aus Malaysia, in dem ein Botaniker versucht, die Essenz seiner verstorbenen Ehefrau in eine von ihm gezüchtete Pflanze einfliessen zu lassen – mit monströsen Folgen für ihn und seine Kreation, aber vielleicht auch die Geburt von etwas neuem, göttlichen. Am schönsten ineinander verwoben werden Realität, Aberglauben und Traumwelt im malaysischen It's Easier to Raise Cattle, in dem sich die neue, offenbar im Wald lebende Freundin einer kindlichen Aussenseiterin als pontianak entpuppt, eine Art vampirischer weiblicher Rachegeist. Hier wird keine Grenze mehr gezogen zwischen der realen und der Geisterwelt – die beiden Mädchen sprechen über das Internet, hören und tanzen gemeinsam zu elektronischer Musik, und wenn die neue Freundin ab und zu nachts ihren monströsen Pflichten nachgehen muss, dann ist das einfach eine zu akzeptierende Eigenschaft einer anderen Aussenseiterin, deren Freundschaft stärker wiegt als die Angst vor dem Anderen. Eine sanfte Coming-of-Age-Geschichte wird hier so gekonnt, eindringlich und poetisch mit der Mythologie verwoben, dass einem für einen kurzen Augenblick klar wird, wo alle diese Geschichten und Wesen überhaupt herkommen. Und wenn der Film aus einer grossen Anzahl von Filmen vielleicht auch heraussticht, ist es doch vor allem die Menge, die in kleineren und grösseren Variationen eines Themas ein vollständigeres und komplexeres Bild einer (spirituellen) Landschaft vermitteln kann, als dies einzelne Werke, Geschichten, Autoren jemals tun könnten. Es sind Erfahrungen, die in dieser Fülle mit gleichzeitiger Intensität fast nur an guten (das heisst: gut kuratierten) Kurzfilmfestivals gemacht werden können.


Info

Grosser Fokus: Tropical Views – Das Kino Südostasiens | Kurzfilmtage Winterthur 2017

More Info on the Programme at Kurzfilmtage Winterthur

The Living Need Light, the Dead Need Music | Shortfilm| The Propeller Group | VNM 2014 21’15’’

If You Leave | Shortfilm | Dodo Dayao | PHL 2016 | 20’57’’

It’s Easier to Raise Cattle | Shortfilm | Amanda Nell Eu | MAL 2017 | 18’00’’

First published: November 28, 2017