Cinema #70 | Archive | Les Videos

Mit drei Geschäftsführern aus drei Generationen nimmt uns Sarah Stutte mit auf einen Spaziergang durch die Geschichte und Aktualität von Les Videos, die mittlerweile letzte Videothek der Schweiz und Treffpunkt für Film-Liebhaber:innen – Editorial von Cinema #70, publiziert in Zusammenarbeit mit Cinema.

Text: Sarah Stutte

Les Videos – Bollwerk gegen die Verdummung

«When people ask me if I went fo film school, I tell them, no, I went to films», Quentin Tarantino, 2004

Himmelblau ist die Welt der Filme. Besonders in Zürich. Von aussen erkennt man den Laden an dieser Farbe, in der die Fensterrahmen und die Tür gestrichen sind. «Schaut Kultur» steht auf einer Fensterscheibe. Auf der anderen die Öffnungszeiten. Schon in der Auslage lächeln einen die aneinandergereihten Klassiker an. Flic ou Voyou (Der Windhund, Georges Lautner, 1979) mit Jean Paul Belmondo oder Rebel Without a Cause (…denn sie wissen nicht, was sie tun, Nicholas Ray, 1955) mit James Dean. Drinnen in der guten Stube ist alles noch viel dichter gedrängt. Hier stehen sie an sämtlichen Wänden – die unzähligen Holzregale, bis an die Decke mit DVDs gefüllt, nach Genres und Neuheiten geordnet.

Dazu noch die Drehgestelle, in Fensternähe oder auf der Verkaufstheke – keine Ecke des Raums ist ungenutzt. Und dabei war man zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht im Keller! Auf dem Weg dorthin stapeln sich im Treppenhaus noch mehr Raritäten – ein eigener kleiner Bereich ist hier den Lieblingsfilmen der Angestellten gewidmet. Im Untergeschoss schliesslich wird nichts versteckt, nicht einmal die Pornos – hier strecken sich Serien und Filme aus allen Ländern der Welt zur Decke. Oder sie liegen aufeinandergetürmt auf dem Boden, weil der Platz inzwischen knapp ist. Über 35’000 von ihnen warten darauf, gefunden oder wiederentdeckt zu werden. «Archiv und Filmverein» steht nicht grundlos auf der Website. Die Welt der bewegten Bilder liegt Filmfans hier buchstäblich zu Füssen – keine Chance, dass jemand im Les Videos beim Central in Zürich nicht fündig wird. Ob er nun nach einem ganz bestimmten Werk Ausschau hält oder einfach nur mal so vorbeischaut.

Mein erster Besuch in dieser legendären Schweizer Kultstätte des Films war tatsächlich der Suche nach einem spezifischen Film geschuldet: ¿Quién puede matar a un niño? (Who Can Kill a Child?, Narciso Ibáñez Serrador, 1976). Dabei handelt es sich um einen Horrorfilmklassiker des vor allem als TV- und Theaterregisseur tätigen Serrador. Dieser brachte in seiner filmischen Laufbahn mit La residencia (The House That Screamed, 1969) nur noch einen weiteren Spielfilm hervor. Mit seinen beiden Werken schuf er aber zwei wegweisende Genrebeiträge, denn sein früher Slasherfilm aus den ausklingenden Sechzigern beeinflusste beispielsweise massgeblich Dario Argentos Suspiria von 1977.

Auch der zweite Streich des spanisch-uruguayischen Filmemachers Serrador avancierte später zum Kultfilm der sogenannten «Euro-Horror-Szene» der Siebzigerjahre. ¿Quién puede matar a un niño? hatte sicher auch einen massgeblichen Anteil an Stephen Kings 1977 veröffentlichter Kurzgeschichte Children of the Corn, die später ebenfalls verfilmt wurde (Fritz Kiersch, 1984). Im Laufe der Zeit erschien Serradors zweiter Film unter verschiedenen Titeln wie The Killer’s Playground, Trapped, Scream oder Island of the Damned. Auf Deutsch gab es zur Videoveröffentlichung eine arg entstellte Schnittfassung mit dem sinnfreien Schriftzug Tödliche Befehle aus dem All. Mit Aliens hatte die Geschichte absolut nichts zu tun, und auch die anderen Titel brachten nicht das auf den Punkt, was dem Original- und dem englischen Namen gelang, unter dem der Film ab 2007 dann zum Glück wieder vermarktet wurde. Die ungekürzte deutschsprachige Fassung wurde nach 24 Jahren der Indizierung 2011 vom deutschen Label Bildstörung unter dem Titel Ein Kind zu töten neu veröffentlicht, war jedoch binnen kürzester Zeit schon wieder ausverkauft.

Im Film reist ein britisches Pärchen in den spanischen Badeort Levante und von dort auf eine abgelegene Insel – sie hochschwanger und er verzückt von dem Fischerdorf, das er einst besuchte. Der Ort deckt sich aber keineswegs mit seinen Erinnerungen, er wirkt ausgestorben und scheint nur von Kindern bevölkert, die sich erst eigenartig benehmen und dann gnadenlos agieren. Der Film gilt als besonders verstörender Beitrag des «Evil Child»-Subgenres, weil er in der dargestellten Brutalität konsequent seine Kritik am sozialen Verfall der Gesellschaft, am Ende der Unschuld und an den Gefahren unkontrollierbarer Gewalt erzählt. Auch stilistisch ist er speziell, denn Serrador stellt seiner farbigen Fiktion dokumentarische schwarzweisse Originalaufnahmen voran, die unterschiedliche Katastrophen des 20. Jahrhunderts wie den Holocaust oder den Vietnamkrieg bebildern. Die Schlussfolgerung daraus, dass die Kinder stets die Leidtragenden dessen sind, was die Erwachsenen zu verantworten haben, wird Serradors zwar etwas plakativ verkaufte, jedoch nicht uneffektive Erklärung für die spätere rachegetriebene Machtumkehr in seiner Handlung.

¿Quién puede matar a un niño? war in den letzten Jahren auf zahlreichen einheimischen Festivals zu sehen – unter anderem am Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF) oder am Fribourg International Film Festival (FIFF). Auch im Zürcher Filmpodium lief er im letzten Jahr in der Filmreihe «Das böse Kind». Doch immer wollten es die Umstände anders und ich konnte ihn nicht sehen. Als DVD und mittlerweile auch als Blu-ray ist der Film in der Uncut-Version auf Deutsch und in einer limitierten Auflage zwar Anfang 2024 erst neu herausgekommen (Fokus Media), doch mittlerweile bereits wieder vergriffen. In anderen Sprachen kann er nur noch vereinzelt und zu entsprechenden Preisen eingeschifft werden. Ich war also untröstlich – bis ich bei einem Besuch im Filmpodium einen guten Tipp bekam: «Versuch es doch mal beim Les Videos an der Zähringerstrasse. Die haben den ganz sicher.» Ein Blick auf die Website stimmte mich wieder fröhlich – der Film war hier tatsächlich unter seinem spanischen Originaltitel zu finden. Also auf nach Zürich.

Ein kleines Paradies

Im Les Videos erwartet mich an diesem späten Dienstagnachmittag Dominic Schmid, seines Zeichens Co-Geschäftsführer. Er arbeitet seit 2011 hier – mit «unterschiedlicher Intensität und mit Pausen, da ich auch noch im Ausland war», sagt er. Den Platz hinter dem Kassentisch teilt er sich unter der Woche mit seiner Kollegin Baiba Bondare und pendelt dafür an drei Tagen zwischen seinem Wohnort Biel und seinem Arbeitsplatz in der Limmatstadt hin und her. Das sei aber kein Problem, meint er. Weil es sich hierbei um einen angenehmen, entspannten Job handle und er gerne Zug fahre. In die mittlerweile letzte Videothek der Schweiz habe es ihn damals zu Beginn seines Studiums der Filmwissenschaft verschlagen. «Ich war schon immer sehr fixiert auf Filme und habe vorher in Biel in einer Videothek gearbeitet. Als ich das Les Videos entdeckte, war das für mich wie ein kleines Paradies. Also habe ich gefragt, ob ich hier arbeiten könne», erzählt Dominic Schmid. Da sagte der heutige Vereinspräsident Fabio Feller, der den Laden in den Neunzigern von Gründer Guido Rhyn übernommen hatte, nicht Nein. 

Aufs Stichwort macht sich das Glöckchen an der blauen Tür bemerkbar und besagter Guido Rhyn kommt herein. In den frühen Achtzigerjahren hatte er die Idee für diese Videothek, deren Geschichte mit einem Kiosk und einem Karteikasten in Zürich-Oerlikon begann. «Ganz am Anfang hiess der Laden Videokiosk. Da ich aber eine Hassliebe zur französischen Sprache habe, wurde daraus Les Videos», sagt Rhyn. 1981 sei es etwas völlig Neues gewesen, Videos zu vermieten. «Sie hatten damals noch einen schlechten Ruf, weil das meist Pornofilme oder B-Movies waren, die weder im Kino noch im Fernsehen gezeigt wurden». Der Kiosk, den er bald darauf gekauft habe, sei der ideale Ort für die Vermietung gewesen. Die Kundschaft würde zweimal dort vorbeischauen – beim Abholen der Filme und beim Zurückbringen. «Alle konnten sich ihren Blick oder ihre Zigaretten holen und dazu noch einen Film ausleihen», erklärt Guido Rhyn sein damaliges Konzept.

Für die Auswahl warfen die Filminteressierten einen Blick in den Karteikasten. In diesem fanden sie auf den Kärtchen kleine aufgeklebte Filmbilder mit kurzen Inhaltsbeschreibungen. Hatten sie sich entschieden, wurde noch kurz ein Ausleihvertrag gemacht und sie konnten mit den VHS-Kassetten davonspazieren. Ob alle Filme wieder zurückgekommen sind? Natürlich nicht, sagt Rhyn und lacht kurz auf, bevor er wieder ernster wird: «Das war der damaligen Drogenszene auf dem Platzspitz geschuldet. Manchen Kassetten bin ich hinterhergelaufen und habe dann die ein oder andere traurige Geschichte erfahren. Von Kund:innen aus dieser Zeit, die verschwunden oder sogar verstorben sind.»

Rhyn fragt Schmid, ob das heute noch so sei, dass manche Filme nicht rechtzeitig zurückgebracht würden. Das komme schon noch vor, antwortet dieser. Er habe aber nicht das Gefühl, dass das absichtlich passiere. «Viele sind einfach nicht mehr daran gewöhnt, dass sie Sachen zurückbringen müssen», meint Dominic Schmid. Böswillig sei das früher auch nicht geschehen, so Rhyn. Doch eine solche VHS-Kassette zu ersetzen, kostete damals rund 300 Franken. Kein Vergleich zu den heutigen Produktionskosten einer DVD oder einer Blu-ray. Dazu kam noch die ordentliche Gebühr für das Verleihrecht in Höhe von knapp 200 Franken pro Film.

Auf dieser hohen Rechnung wäre der Gründer des Les Videos sitzen geblieben, hätte er nicht nachgefasst und – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg – an die entsprechenden Haustüren geklopft. «In anderen Videotheken wurden damals teilweise noch Depots geleistet. Bei uns nicht», sagt Guido Rhyn. Später seien dann Kaufkassetten auf den Markt gekommen, die ungefähr 40 bis 50 Franken gekostet hätten. Daraufhin wurde das Verleihrecht irgendwann abgeschafft, «weil die Vertriebe vermutlich gemerkt haben, dass das rechtlich nicht durchsetzbar ist», so Rhyn. Er erzählt, dass er immer noch eine grosse Kiste mit Verträgen von damals in seinem Keller stehen habe – über Videos, die nie mehr den Weg zu ihm zurückfanden. «Von Zeit zu Zeit schaue ich die durch und erinnere mich wieder an den ein oder anderen Paradiesvogel. Eigentlich sollte ich die Kiste wegschmeissen», meint er und lacht.

Die Paradiesvögel gab es laut Rhyn vor allem am zweiten Standort des Les Videos in Zürich-Wiedikon. Dorthin zog der Filmverleih einige Jahre später. Diesmal mit einem richtigen Ladenlokal an der Birmensdorferstrasse, gegenüber dem damaligen Elektrofachgeschäft Eschenmoser, dem heutigen Fust. Ungefähr 1000 Filme habe er dort bereits im Verleih gehabt. «Mein Publikum war noch ein ganz anderes. Neben den Junkies kamen vor allem die Angestellten aus der Gastronomie und der Clubszene, die bis Mitternacht oder länger gearbeitet haben. Sie liehen sich Filme aus, weil das normale Fernsehprogramm dann, wenn sie Feierabend hatten, schon lange Sendepause hatte. Deshalb hat das Videogeschäft auch so gut funktioniert», meint Guido Rhyn.

Das Kind Videothek

Les Videos zog noch einmal um, bevor es sich an seinem heutigen Standort in der Zähringerstrasse niederliess – nämlich an den Seilergraben. Ein grosser Laden sei das gewesen, sagt Rhyn. Hier habe sich das Publikum allmählich in Richtung cinephiler Interessenkreis entwickelt – «weg von der Action- und B-Movie-Kundschaft». Die VHS sei plötzlich als Geschäftsmodell für die Filmwirtschaft entdeckt worden, erzählt Rhyn – mit exklusiven Direct-to-Video-Produktionen und der Vermarktung grosser Blockbuster, die sechs Monate oder ein Jahr nach dem Kinostart in den Verleih kamen. «Wir hatten vor allem auf Deutsch synchronisierte Filme bei uns. Von den Hollywoodfilmen kaufte ich immer direkt mehrere Exemplare ein, weil alle auf den Videostart warteten und dann am ersten Wochenende die Nachfrage danach gross war», sagt er.

Mitte der Neunzigerjahre wurde dann das Video Home System allmählich durch die Digital Video Disc ersetzt. Diesen einschneidenden Wechsel erlebte Guido Rhyn nur noch am Rande mit, da er zu diesem Zeitpunkt das Les Videos schon an seinen damaligen Mitarbeiter Fabio Feller übergeben hatte. Den Schlüssel händigte Rhyn ihm aus, weil ihm die Belastung über die Jahre zu hoch geworden war. «Ich gründete parallel dazu ein Studio für Videobearbeitung und führte eine Firma für Lautsprecherwerbung. Das Les Videos war zu meiner Zeit noch bis 22 Uhr offen, 365 Tage im Jahr. Ich hatte nie Ferien oder einmal ein Wochenende Pause», sagt er. Ob ihm der Abschied schwergefallen sei? «Bis kurz vor meinem Weggang nahm ich das an. Weil die Videothek mein Kind war, ich jeden Nagel im Laden kannte, weil ich ihn selbst dort eingeschlagen hatte. Ich stellte mir also vor, wie ich weiterhin vor dem Schaufenster rumlungern würde, um zu schauen, wie Fabio das macht. Das ist dann aber nie passiert», erzählt Guido Rhyn schmunzelnd.

Dominic Schmid kennt den Übergang von analog zu digital im Les Videos noch vom Hörensagen. «Eine Zeit lang liefen bei uns die alten VHS-Kassetten noch parallel zu den neuen Discs – bis sich dann die DVD schliesslich durchgesetzt hat. Nicht nur wegen der verbesserten Bild- und Tonqualität, sondern vor allem wegen der Sprachversionen. Das hat eine ganz neue Welt eröffnet – einen Film in Originalton mit Untertiteln zu schauen und die Auswahl zwischen mehreren Sprachen. Zudem war der Einkauf viel billiger», sagt er. Es gibt aber im Les Videos immer noch Filme aus dem alten Bestand, die in einer Kiste gelagert werden. «Manchmal kommt es vor, dass jemand nach einem solchen Film fragt. Aber eher selten», meint Dominic Schmid. Zusätzlich hätte auch Guido Rhyn noch ungefähr zwanzig Kisten mit alten VHS-Kassetten in seinem eigenen Keller stehen.

Schmid fragt ihn, wie viele Filme er aus seinem Sortiment selbst gesehen habe. «Die meisten», sagt Rhyn und ergänzt: «Ich habe versucht, alles zu bekommen, was erhältlich war. Es gab ganz wenige Filme, die ich aus der Brutalo-/Porno-Zeit verweigerte. Evil Dead von Sam Raimi (1981) musste ich dagegen einfach haben. Den habe ich damals unter dem Ladentisch vermietet, weil er auf dem Index stand», erzählt Rhyn. Viele Filme seien früher für die Videoauswertung geschnitten worden. Zu seiner Zeit habe es einen Berner Stadtpolizisten gegeben, dem die Verleiher einige Kassetten zum Vernichten in die Hand gedrückt hätten, damit er andere Filme dafür durchwinke, erinnert sich Rhyn. Dass er aus dem Les Videos nicht nur eine reine Videothek habe machen wollen, sondern vor allem ein Filmarchiv, sei seine Macke gewesen, sagt der Ladengründer. «Ich hatte viele ausgefallene Filme, die nie vermietet wurden. Um an diese Werke zu kommen, bin ich viel herumgereist. Ich wollte der Einzige in der Schweiz sein, der den Film Das alte Ladakh von Clemens Kuby (1986) anbietet, und bin dafür persönlich zu ihm nach München gefahren. Er hat mir dabei noch zwei oder drei andere transzendental-meditative Filme mit auf den Weg gegeben», so Rhyn.

Auch auf drei filmische Vorträge über Das Grüne Buch – das propagandistische Pamphlet zur Basisdemokratie des ehemaligen libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi – ist Rhyn stolz. Dominic Schmid schaut schnell im System nach und findet einen Eintrag: «Vortrag von Muammar al-Gaddafi von 1978 und 1980». Die seien dort immer noch verzeichnet. Rhyn lächelt und erzählt, wie er überhaupt zu diesen Videos kam. «Eines Tages stand ein gut angezogener junger Mann in meinem Laden an der Birmensdorferstrasse und meinte, er wolle Kultur auf VHS verbreiten – ob ich daran Interesse hätte? Er kam bald darauf mit zwei, drei Kassetten wieder, ich habe sie in eine Ecke gestellt und irgendwann einmal reingeschaut.» Damals sei ihm Das Grüne Buch noch kein Begriff gewesen – also «dass das eigentlich Islam-Propaganda ist», meint er. Das wurde ihm erst später bewusst. Doch dass gerade solche Filme im Verleih zu haben gewesen seien, habe sich natürlich herumgesprochen und den Umsatz getragen, selbst wenn die einzelnen Videos nicht amortisiert worden seien. «Les Videos war einfach der Laden, der alles hat. Und ist es immer noch. Deshalb ist es auch der einzige, der in der Schweiz überlebt hat», ist Guido Rhyn überzeugt.

Ist es tatsächlich nur dieses Alleinstellungsmerkmal? Angesichts des Umstands, dass die Institution Videothek erst durch die DVD, dann durch die Blu-ray und zuletzt durch das illegale wie das legale Streaming ab Mitte der 2000erjahre zu einer nahezu ausgestorbenen Gattung wurde, scheint das fast zu einfach. «Sicher, wir haben das grösste Sortiment und gehen auf spezielle Kund:innenwünsche ein. Doch das nötige Glück hat natürlich auch noch eine Rolle gespielt und die gute Lage in Bahnhofsnähe», sagt Dominic Schmid. In kleineren Städten habe das Videotheken-Sterben schon früher angefangen. In Zürich – mit einer Universität und einem grösseren, kulturell interessierten Publikum – sei die Entwicklung langsamer vorangeschritten. Hier schloss die vorletzte Videothek, der Filmriss am Goldbrunnenplatz, 2017 ihre Türen. Ein Teil dieser Stammkundschaft fand danach logischerweise den Weg ins Les Videos.

Und dann wurde von Fabio Feller 2014 die Idee mit der Vereinsgründung und der Einführung eines Abo-Systems aufgeworfen – als zusätzlicher Rettungsanker. Mit einer Flatrate-Mitgliedschaft – ähnlich dem Bahn-GA – zahlen Filmenthusiasten 365 Franken im Jahr und können dafür in diesem Zeitraum so viele Filme und Serien ausleihen, wie sie möchten. Dafür gibts auch kein fixes Rückgabedatum. Wer sich lieber zum halben Preis durch das ganze Archiv schauen möchte, ist mit einem Halbtax für 88 Franken im Jahr dabei. Für Nichtmitglieder beträgt die Ausleihe weiterhin 8 Franken pro Film mit Rückgabe bis zum übernächsten Tag. «Viele unterstützen uns auch mit einem Gönnerbeitrag, weil das Les Videos mittlerweile wie ein wertvolles Pflänzchen ist, das eingehen kann, wenn man sich nicht darum kümmert. Sie wollen nicht, dass dieser Ort verschwindet», so Dominic Schmid. Ganz unbeschadet sei man trotzdem nicht aus den Krisen herausgekommen. So musste das Les Videos den oberen Stock des Ladens zur Untermiete hergeben, bei den Löhnen sparen und auch die Öffnungszeiten kürzen. Der Beliebtheit des zarten Pflänzchens Les Videos tat dies jedoch keinen Abbruch.

Offen für Neues

«Palim, Palim», macht es zum wiederholten Male an diesem Nachmittag, und eine Frau betritt den Laden. Sie bringt einen Film mit dem deutschen Schauspieler Gert Fröbe zurück und fragt nach weiteren Tipps. Dominic Schmid schlägt ihr einen anderen Film aus der Dr. Mabuse-Reihe von Fritz Lang vor. Einen davon hat die Kundin schon gesehen. Ob sie ihn gut gefunden habe, fragt er nach. Ein wenig unheimlich, meint sie. Schmid tippt wieder ins Verzeichnis. Es gebe sonst noch den Spielfilm Und ewig singen die Wälder (Paul May, 1959). Das töne gut, meint sie und leiht den Film aus. Als sie wieder auf die Strasse tritt, meint Dominic Schmid, dass das Publikum im Les Videos recht durchmischt sei. Neben dem Jugendlichen, der gerade Andrei Tarkowski für sich entdeckt hat, über den Horrorfilmfan, der nach neuem Genrestoff sucht, trifft hier die dokumentationsinteressierte Mutter auf den älteren Filmliebhaber. Ein gut sortiertes Angebot an italienisch- und französischsprachigen Filmen zieht auch viele Expats an. Auf Wunsch werden Filme zudem per Post in die ganze Schweiz verschickt.

Ob viele, so wie die Kundin, die sich für Gert Fröbe interessiert, grundsätzlich offen für Anregungen sind? «Es gibt schon einige, die nach Empfehlungen fragen. Die meisten Kundinnen und Kunden sind nicht fixiert auf einen bestimmten Titel oder Inhalt und lassen sich vom Angebot inspirieren. Andere wiederum fühlen sich davon überfordert und sagen das dann auch. Dann kann ich sie persönlich beraten und mit ihnen durch den Laden laufen. Das ist schön. So lernt man die Menschen über ihre kulturellen Interessen kennen», sagt Dominic Schmid. Das Gegenteil gebe es aber auch. Dass er mit Leuten stundenlang herumgehe und ihnen nichts passe. «Aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen – weil sie nicht gerne Schauspieler mit Schnauzbart haben», sagt Schmid und lacht. Ein weiterer Kunde hat den Laden betreten und schaut sich um. Er sei seit 1997 Kunde im Les Videos, erzählt der Zürcher mittleren Alters. Warum er gerne hierhin komme? «Weil es nirgendwo sonst noch so uraltes Zeugs gibt. Das ist lässig», sagt er. Er schaue querbeet alles – ausser Horrorfilme. Letztens habe er die Dreigroschenoper (Georg Wilhelm Pabst, 1931) hier gefunden. «Es ist toll, dass Zürich noch so einen Laden hat», sagt er und lässt sich von Dominic Schmid einige Kriegsfilme aushändigen.

Les Videos ist also auch ein Treffpunkt für Filmnerds? «Ja, aber nicht gezielt», meint Schmid. Es gebe Menschen, die sich hier begegnen würden und miteinander ins Gespräch kämen. «Oder sie kennen sich von früher und haben sich lang nicht mehr gesehen», fügt er hinzu. Früher sei der Besuch des Les Videos als Ritual ein Bestandteil des Umsatzes gewesen, so Guido Rhyn. «Ich wusste genau, am Samstag um 22 Uhr kommt der Kurt vorbei, schaut sich um, unterhält sich mit dir und mietet dann noch einen Film. Von diesen Kurts gab es mehrere. Das war Begegnung und Familie.» Schmid sagt: «Das ist auch heute noch so. 90 % der Menschen, die in den Laden kommen, sehe ich nicht zum ersten Mal.» Doch nicht nur die private Kundschaft wird im Les Videos fündig, sondern auch Institutionen. Kinos wie das Filmpodium oder das Kino Xenix nutzen die grosse Auswahl des Ladens und die Expertise der Mitarbeitenden häufig als Recherchegrundlage für ihre Programmation. Auch das Schweizer Fernsehen SRF fragt das Les Videos des Öfteren für filmhistorische Beiträge an. 

Wir stehen mittlerweile schon seit über einer Stunde im Laden und unterhalten uns – Dominic Schmid und Guido Rhyn zeigen keine Müdigkeitserscheinungen, wenn es um ihr Lieblingsthema Film geht. Sie sind sich einig darin, dass der Videotheken-Boom, der Mitte der Siebzigerjahre begann, und die damit verbundene neue Art des Filmkonsums auch die Art des Filmemachens enorm beeinflusst haben. «Meine Sammelleidenschaft hat sich erst in den Achtzigerjahren angefangen zu lohnen, als die Studentinnen und Studenten der in Zürich neu eingeführten Disziplin Filmwissenschaft in den Laden kamen und unbedingt die Werke von Luis Buñuel oder andere Klassiker sehen wollten, die zu diesem Zeitpunkt gerade nicht im Filmpodium liefen», erzählt Rhyn.

Sie alle wollten die Werke ihrer Vorbilder anschauen, um sich davon inspirieren zu lassen. «Das hielten auch viele Nouvelle Vague-Regisseure so, die ihre Bildung der Cinémathèque in Paris verdankten und nur dadurch ihr Handwerk oder ihre Filmsprache entwickelten. Analog dazu hat auch die Videotheken-Generation Regisseure wie Quentin Tarantino hervorgebracht, die selbst dort gearbeitet und sich nonstop Filme angeschaut haben», so Dominic Schmid. Es sei dort halt auch alles an einem Ort verfügbar gewesen, um sämtliche Stile und Zitate miteinander zu kombinieren. «Auf Video hat man sich Szenen zwanzigmal und mehr anschauen und so beispielsweise Kamerapositionen bis ins Detail studieren können. Das führte zu einer ganz neuen Filmästhetik. Videotheken haben dazu einen grossen Teil beigetragen», sagt Dominic Schmid.

Der See und die Verengung

Die blaue Türe schwingt klingelnd abermals auf und Fabio Feller betritt den Raum. Nachdem er sich seiner schweren Motorradkluft entledigt hat, steigt er naht- und mühelos in das Gespräch mit ein, das sich jetzt dem Streaming widmet. «Das Konsumverhalten hat sich mittlerweile nochmals geändert, die Aufmerksamkeitsspanne wird kleiner. Im Schnellverfahren etwas anschauen, herein- und wieder herauszappen – das gab es früher alles nicht», sagt Guido Rhyn. Er habe keinen einzigen Streamingdienst abonniert, weil er die Haptik von Filmen und den Dialog darüber möge, das soziale Miteinander. Auch schaue er bis heute Filme bis zum Schluss an, um diesen eine Chance zu geben. «Vielleicht sage ich dann am Ende: Die Geschichte war nicht so spannend. Aber dann ist das halt so.» Darauf fügt Feller hinzu: «Man kann auch sagen: Wir sind ein See und Netflix ist eine Verengung. Es ist ein Irrglaube, dass durch Streaming ein breiterer Filmmarkt entsteht. Das Gegenteil ist der Fall – die Anbieter kippen Filme aus ihrem Fundus, die sich für sie nicht rentieren. Bei uns dagegen kann eine DVD zwei Jahre lang im Regal stehen, ohne ausgeliehen zu werden, und das tut niemandem weh.»

Wie steht es um das heutige Kinoerlebnis? Lange Arthouse-Filme mit komplexer Story anzuschauen, geht im No-Brainer-Blockbusterwahn doch mittlerweile auch nicht mehr, oder? «Richtig», meint Guido Rhyn, «deshalb ist unser Angebot auch ein Bollwerk gegen die Verdummung.» Und Dominic Schmid ergänzt: «Viele haben heute Mühe mit alten Filmen. Man setzt diese in puncto Rassismus, Sexismus und Gewalt nicht in den Kontext und lässt aussen vor, dass die Zeit, in der sie entstanden sind, eine andere war.» Und Fabio Feller merkt an: «Wir haben bei uns manchmal im Hinterzimmer auch Filme gezeigt und diese zusammen im Team oder mit befreundeten Kundinnen und Kunden geschaut. Einmal war Lina Wertmüllers Film Swept Away (1974) dabei. Darin wird eine Frau vergewaltigt, die sich nachher in ihren Peiniger verliebt. Danach gab es schon eine rege Diskussion über den Film.» Womit wir wieder bei Guido Rhyns Aussage wären, dass der Austausch über Filme in einem dafür geeigneten Setting wie einem Kino oder eben einer Videothek fast noch wichtiger ist als der Medienkonsum an sich.

Was passiert, wenn die Welt einmal komplett technologisiert ist? Wird ein so einmaliges, wichtiges Filmarchiv wie das Les Videos trotzdem weiterbestehen? «Wir wissen es nicht. Unser befristeter Mietvertrag läuft bis 2028. Danach wird sich die Frage stellen, ob wir an einen neuen Ort umziehen oder den Laden ganz schliessen müssen», sagt Dominic Schmid. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: «In der Bieler Videothek, in der ich zuvor gearbeitet habe, erlebte ich einen Abverkauf mit. Das hat mir dort schon fast das Herz gebrochen. Den Laden hier auseinanderzureissen und ein einmaliges Biotop zu zerstören – das wäre einfach extrem schade. Deshalb müssen wir einen Weg finden, dieses Vermächtnis in irgendeiner Form zu bewahren.»

«Wir haben hier das Glück einer vergleichsweise günstigen Miete. Der grösste Knackpunkt wird also sein: Gibt es in Zürich einen genug grossen Raum, den wir uns finanziell leisten können?», gibt Fabio Feller zu bedenken. Gleichzeitig meint er aber auch, dass es trotzdem einen Begegnungsort wie diesen braucht. Deshalb wägt das Team gerade Optionen ab, um eine gute Lösung zu finden. «Eigentlich sollte es uns schon seit gut 15 Jahren nicht mehr geben. Aber wir haben die Swissair überlebt, wir haben die Credit Suisse überlebt – dank der Kundschaft, die den Laden schätzt, sind wir immer noch da. Und haben weiter vor, so lange wie möglich zu bleiben.»

Info

Cinema – Das Schweizer Filmjahrbuch | #70: Archiv | Schüren Verlag 2025
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Book Launch Apéro | Les Videos Zürich | 26/4/2025

 

First published: April 21, 2025