CINEMA #67 | Trennlinien

[...] Den Fokus des Bandes CINEMA #67 – Trennlinien (Schüren Verlag) haben wir bewusst auf die Trennlinien ausgerichtet, die sich zwischen filmischen Figuren, zwischen Darstellungsformen oder gar direkt zwischen der Kamera und den Zuschauer:innen abzeichnen. Hier sind es die Handschriften der Filmemacher:innen, die sich darin unterscheiden, ob diese Trennlinien als Spaltung sichtbar gemacht, als Herausforderung angegangen oder ganz einfach als unangenehmer Umstand ausgeklammert werden.

Editorial vom CINEMA Buch «Trennlinien»

In dieser Ausgabe stellen wir die Frage ins Scheinwerferlicht, welche gesellschaftlichen und kulturellen Trennlinien sich durch die Schweizer Film- und Medienlandschaft ziehen. Dazu werden die Beiträge der Frage nachgehen, wie soziale und kulturelle Ausgrenzung und Diskriminierung verhandelt und wie gesellschaftliche Diversität bekräftigt wird. Die gesellschaftskritische Tradition des Mediums Film spielt dabei ebenso eine zentrale Rolle wie seine Tendenz, durch ästhetisch ansprechende Darstellung zu verklären. Die Themen Diversität und Differenz im Filmschaffen können nur schwer losgelöst von den gesellschaftlichen Polarisierungen der letzten Jahre betrachtet werden. So sehr haben die Protestbewegungen von #MeToo bis zu #Black LivesMatter die öffentliche Debatte der letzten Jahre geprägt – weitestgehend jedoch ohne, dass dabei über die strukturelle Verankerung von Diskriminierung in medialer Breite berichtet wurde. Welche Rolle kommt in dieser Gemengelage dem Film und der Filmkritik zu? Den Fokus dieses Bandes haben wir bewusst auf die Trennlinien ausgerichtet, die sich zwischen filmischen Figuren, zwischen Darstellungsformen oder gar direkt zwischen der Kamera und den Zuschauer:innen abzeichnen. Hier sind es die Handschriften der Filmemacher:innen, die sich darin unterscheiden, ob diese Trennlinien als Spaltung sichtbar gemacht, als Herausforderung angegangen oder ganz einfach als unangenehmer Umstand ausgeklammert werden.

In seinem einführenden Beitrag zeigt Jean Perret, wie der Schweizer Film der letzten Jahre am Beispiel der Darstellung von Afrika Grenzen und Schranken gezogen, verschoben und verwischt haben. Vom kolonial-verklärenden Blick bis zu neuen Ansätzen des gesellschaftskritischen Dokumentarfilms zeigt er auf, wie sich ästhetische, aber auch ethische Trennlinien durch die filmische Geste der untersuchten Filmemacher ziehen. Anlässlich des Filmes Arada setzt sich Marcy Goldberg anschliessend mit der konkreten Ausgrenzung entlang nationaler Zugehörigkeit auseinander. Ihr Beitrag stützt sich auf die Diskussionen zur Ausschaffungspraktik in der Schweiz und auf die Geschichten, die sich durch die Abschiebung diesseits und jenseits staatlicher Grenzen abspielen.

Die Schweiz als Einwanderungsland prägt den Beitrag von Mattia Lento. In seinem Text zeichnet er nach, wie sich durch die Darstellung der italienischen Diaspora der filmische Raum nach und nach ausgeweitet hat. Auch das Interview mit Karoline Arn und Martina Rieder gibt Einblicke in die Produktion und Rezeption der Filme jung und jenisch und unerhört jenisch. Beide Filme thematisieren die Geschichte von Verfolgung und staatlicher Zwangsmassnahmen von Fahrenden in der Schweiz. Am Beispiel der Schweizer Volksmusik und ihrer Rückgriffe auf Jenische Musikkultur setzt er zudem Formen der kulturellen Aneignung in Szene, anhand derer Jenische Musiker:innen systematisch unsichtbar gemacht wurden.

In seinem Beitrag nimmt Benjamin Eugster soziale Trennlinien im Bankenland Schweiz als Ausgangspunkt, um zu besprechen, wie am Beispiel der Figur des weissen, männlichen Bankers gesellschaftliche Unterschiede und Ungleichheiten in der Schweizer Film- und Fernsehgeschichte verhandelt werden. Einen systematisierenden Ansatz wählt der Text von Achim Hättich, der sich gezielt mit der Frage auseinandersetzt, wie sich die Darstellung von Behinderung von Höhenfeuer bis zu Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern zwischen Exklusion und Inklusion bewegt.

Der Band widmet sich auch gegenwärtigen Herausforderungen, denen die Schweizer Film- und Kinobranche während der Corona-Pandemie gegenüberstand und die noch weit über das letzte Jahr hinauswirken werden. Im Gespräch mit Kinobetreibern und Filmverleihern diskutiert Bettina Spoerri, inwiefern mit dem Überschreiten der Trennlinie zwischen Kino und Online-Distribution Modellerfahrungen für die Zukunft gemacht wurden. Ein schreiberisches Experiment haben Andreas Müller, Simon Guy Fässler, Marcel Bächtiger und Frank Matter in ihrem Gesprächsprotokoll gewagt. Sie geben darin Einblick in die letzten Schnittentscheidungen vor der Finalisierung des Filmes mit dem Arbeitstitel Ruäch. Die Diskussion zum richtigen Filmtitel und zur sprachlichen Annäherung an die Protagonist:innen zieht sich durch die anekdotischen Flashbacks zu den Dreharbeiten und den letzten harten Entscheidungen im Schnittraum.

Im diesjährigen Filmbrief berichtet der in Deutschland wohnhafte Filmemacher Michael Koch von einer Reise in die Ferne – in die Urner Berge, wo er sein Filmprojekt Ein Stück Himmel realisierte. Die Erzählung ist dabei ebenso geprägt von der eigenen Fremdheit wie von der vorsichtigen Annäherung und Suche nach gegenseitigem Vertrauen auf dem Set. Im literarischen Beitrag beschreibt Anja Nora Schulthess die feine Trennlinie zwischen Überheblichkeit und Übergriffigkeit. In einer kühlen Nüchternheit seziert sie in Was nicht zu mir gehört die Begegnung einer jungen Autorin mit einem aufdringlichen bekannten Autor.

Im Herzen des Bandes befindet sich ein farbenprächtiger Bildessay der Videokünstlerin Olga Titus, der mit einem ganzen Kosmos kultureller Symbolsprachen kokettiert und dabei alle formalen Rahmen sprengt. Durch das Buch ziehen sich Statements von Schweizer Filmfestivals, die in ihrer Konzeption der Diversität des Filmschaffens einen besonderen Platz einräumen. Dabei werfen sie nicht nur Fragen der Filmprogrammation auf, sondern auch die der sozialen Zusammensetzung des Publikums und der Grenzen des Anspruchs auf Mainstream-Appeal. Wie in jedem Band wird die Breite und Tiefe des aktuellen Filmemachens durch eine Fülle von Festivalberichten und Kurzrezensionen ergänzt.

 

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CINEMA #67 – Trennlinien | Schüren Verlag 2022

Editorial vom Buch | Benjamin Eugster

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First published: February 11, 2022