Captain Volkogonov Escaped
[…] Je unwahrscheinlicher die Möglichkeit der Vergebung wird, desto verzweifelter rennt ihr der Protagonist hinterher. Zuweilen wirkt es, als hätte Robert Bresson einen Bourne-Film gedreht, was nicht die unoriginellste aller Ausgangslagen ist.
[…] Je unsäglicher die politische Situation eines Landes, desto interessanter ist sein Kino. Die These ist furchtbar heikel und gerät mit zunehmendem Despotie-Grad schnell an ihre Grenzen.
Text: Dominic Schmid
Die Geschichte hat sich seit jeher grösste Mühe gegeben, die These vom Menschen als grundsätzlich moralisches Wesen zu untergraben. Alleine die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts liefert eine solch düstere Fülle von Beispielen für das Gegenteil, dass die Hoffnung gering scheint, dass der Menschheit als Ganzes irgendwann irgendwo so etwas wie Gnade zuteilwerden wird. Was nun das Individuum diesbezüglich betrifft, untersucht der Film Captain Volkonogov Escaped in einer Art extremen Versuchsanordnung. Das Resultat ist, so viel sei vorweggenommen, nicht eindeutig.
Hauptmann Fyodor Volkonogov (Yuri Borisov) – sein Vorname kaum ein Zufall – befindet sich fast von Anfang des Films an auf der Flucht. Vor seinen ehemaligen Vorgesetzten und Mitarbeitern bei der sowjetischen Staatssicherheit, aber auch vor seiner eigenen Verantwortung. Je unwahrscheinlicher die Möglichkeit der Vergebung wird, desto verzweifelter rennt ihr der Protagonist hinterher. Zuweilen wirkt es, als hätte Robert Bresson einen Bourne-Film gedreht, was nicht die unoriginellste aller Ausgangslagen ist.
Einen Menschen bloss solle er finden, der ihm seine Taten vergebe, dann komme er trotz allem doch noch in den Himmel. So teilt es Volkonogov die gespenstische Erscheinung seines soeben exekutierten Freundes Veretennikov (Nikita Kukuschkin) mit, der einer der regelmässigen «Neubewertungen» zum Opfer gefallen ist. Die Begegnung findet im Massengrab statt, zu dessen Aushebung der vor selbigen «Neubewertung» geflohene Volkonogov spontan rekrutiert wurde, zusammen mit einigen Obdachlosen. Veretennikov erzählt Volkonogov von den Qualen der Hölle, in die er für seine Aktionen im Dienste der Staatssicherheit verdammt wurde, die auch dem Geflüchteten drohen, sollte seine Suche nach Absolution nicht gelingen, bevor ihn seine Verfolger erreichen.
«Sie sind vielleicht jetzt unschuldig, aber später werden sie es nicht mehr sein», lautet eine der inoffiziellen Rechtfertigungen, mit der die Staatssicherheit während der stalinistischen Säuberungen im Leningrad der 30er-Jahre Tausende Menschen mit grotesker Effizienz ermordete. Der Chefhenker, der hier nur in einer Szene auftritt, demonstriert für seine Schüler geduldig, in welchem Winkel der Kopf des zu erschiessenden Opfers zur Wand hin ausgerichtet sein sollte, damit die Kugel möglichst nicht verschwendet wird. Jene Schüler, die bei der Übung am realen Menschen wegen Zittrigkeit oder eines Rests von Menschlichkeit versagen, behandelt er mit geduldiger Nachsicht und drückt den Revolver dem nächsten in die Hand.
Vergebung und Hoffnung sind trotz aller gehetzten Versuche Volkonogovs spärlich gesät im Leningrad von Captain Volkonogov Escaped. Die Angehörigen, von denen er sich die Absolution erhofft, sind entweder wütend, desillusioniert oder bereits verrückt geworden. Und doch ist der Film weit entfernt vom beissenden (und unterhaltsamen) Zynismus von Armando Iannuccis The Death of Stalin, der eine vergleichbar sowjetisch-menschlichkeitswidrige Situation als tiefschwarze Groteske transportiert. Merkulovas und Chupovs Film dagegen ist wütend, von Körperlichkeit gezeichnet und lebt, während Ianuccis Figuren austauschbare Funktionäre sind, von der eindringlichen Präsenz seines Hauptdarstellers Yuri Borisov, der bereits in Compartment No. 6 eine nicht ganz unklischierte Figur mit nachwirkendem Charisma ausstatten konnte und der wohl eines der vielversprechendsten jungen russischen Schauspieltalente ist.
Kaum weniger eindrucksvoll ist die Art und Weise, mit der Merkulova und Chupov das dostojewskisch anmutende Fegefeuer Leningrads in Szene setzen. Unstete Cinemascope-Bilder mit verwaschenen Farben, aus denen vor allem das Rot hervorzustechen scheint, sanft pulsierende Musik auf einer ansonsten intensiven Tonspur und vor allem die trotz allen Anachronismen zeitgemäss wirkende Kostümierung und Ausstattung. Die Folterknechte tragen moderne Trainingsanzüge und bewegen sich durch anscheinend bereits kriegsversehrte oder zerfallene Prunkbauten, die nur noch entfernt von der Grösse des knapp ein Jahr zurückliegenden Zarenreichs zeugen. Im zum Leichenschauhaus umfunktionierten Kellerraum, in dem die Gerichtsmedizinerin auch noch ihr Nachtlager aufgeschlagen hat, wähnt man sich schon im direkten Vorraum zu jener Hölle, aus der Veretennikov mit schreckerfüllten Augen Zeugnis abgelegt hat.
Je unsäglicher die politische Situation eines Landes, desto interessanter ist sein Kino. Die These ist furchtbar heikel und gerät mit zunehmendem Despotie-Grad schnell an ihre Grenzen – zum Beispiel etwa in genau jener Epoche, von der dieser Film erzählt. Es scheint aber tatsächlich, um es zynisch auszudrücken, eine Art «sweet spot» zu existieren, in dem Filmemacher zu einer solch originellen, wütenden oder subversiven Ästhetik tendieren, die für formal wegweisende Filme sorgt. Natürlich ist das erstens immer eine gefährliche Gratwanderung, die nicht selten direkt ins Gefängnis, den Hausarrest oder ins Berufsverbot führt, und zweitens ist damit auch den Opfern noch nicht geholfen. Captain Volkonogov Escaped erzählt vielleicht nicht direkt von Wladimir Putins Russland. Aber später wird er es vielleicht doch getan haben.
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Info
Captain Volkonogov Escaped | Film | Natasha Merkuloval, Aleksey Chupov | RUS-EST-FR 2021 | 126’ | Black Movie Genève 2022
First published: February 13, 2022