Becoming Animal | Peter Mettler

[…] Das Resultat ist eine filmische Erfahrung, die gleichzeitig intellektuell und sensuell ist; die zwar in ihrer Dichte zeitweise etwas überfordert, der aber etwas gelingt, was im Kino äusserst selten ist: buchstäblich und nicht nur vorübergehend die eigene Wahrnehmung zu verändern.

[…] Wahrnehmung sei, zumindest in der „Natur“, stets ein wechselseitiger Prozess, bei dem der Mensch nur ein kleiner Teil eines riesigen Netzwerkes sei, zu dem Tiere, Pflanzen und auch „unbelebte“ Objekte wie Steine gehörten. So entwirft Abram eine Art modernen Animismus – immerhin die allererste aller Religionen, entstanden in noch vorsprachlicher Zeit –, den es Mettler und Davie hier gelingt, in filmische Sprache zu übersetzen.

Text: Dominic Schmid | Audio/Video: Ruth Baettig

Es ist fast unmöglich, Wahrnehmung zu denken, ohne von einer spezifisch menschlichen Wahrnehmung auszugehen. Sich in jene von anderen Lebewesen hineinzuversetzen, die weder über ein Selbstbewusstsein noch über auf Sprache basierende Denkprozesse verfügen, ist ohne eine zumindest vorübergehende Modifikation der eigenen Wahrnehmung – sei es durch Meditation, Drogen oder andere Techniken – ein imponderable, eine Unwägbarkeit. In Becoming Animal erwägen Peter Mettler und Emma Davie zusammen mit dem Philosophen David Abram nun aber genau dies: die verschiedenen Verbindungen und Differenzen in der Wahrnehmung zwischen Mensch und Natur. Wenn man Peter Mettlers frühere Filme kennt, überrascht es nicht, dass diese Erwägung nicht (alleine) mittels Sprache – die, wie David Abram im Film ausführt, eine der Hauptbarrieren diesbezüglich darstellt –, sondern mittels einer filmischen Form stattfindet, deren Absicht es ist, eine rein filmische Entsprechung für die Thesen Abrams zu finden. Das Resultat ist eine filmische Erfahrung, die gleichzeitig intellektuell und sensuell ist; die zwar in ihrer Dichte zeitweise etwas überfordert, der aber etwas gelingt, was im Kino äusserst selten ist: buchstäblich und nicht nur vorübergehend die eigene Wahrnehmung zu verändern.

Dabei ist – vielleicht überraschenderweise – Becoming Animal ziemlich gradlinig strukturiert. Im Vergleich etwa zu Mettlers diesbezüglich etwas ausufernden Werken Gambling, Gods and LSD oder The End of Time arbeitet dieser Film auf der inhaltlichen Ebene seine Themen in ziemlich säuberlicher Anordnung ab: von der menschlichen Wahrnehmung an sich und deren Differenzen zu einem ursprünglichen, nicht-sprachlichen Empfinden über die Ursprünge der Musik in Tierlauten und jenen der Schrift in der „Kalligrafie der Flüsse“, der Höhlenkritzeleien und der Hieroglyphen bis zur Natur des menschlichen Geistes in seiner Funktion als Selbstbewusstsein der Natur. Als die Schrift vor Jahrtausenden allmählich begann, ihren abstrakten Charakter von heute anzunehmen, indem sie nur noch symbolisch auf bestimmte phonetische Laute verwies, verschwanden nach und nach auch die Assoziationen zum Ursprung der Wörter, die etwa in früheren Schriftsystemen durch deren indexikalische Funktion noch direkt auf etwas Konkretes verwiesen. Die Überbleibsel einer engeren Verbindung zwischen Sprache und bezeichnetem natürlichen Objekt sind heute nur noch in lautmalerischen Wörtern zu finden, häufig etwa im Zusammenhang mit dem Wasser: rauschen, fliessen, rieseln, plätschern, etc. Dass die Entwicklung des menschlichen Geistes eine Einbahnstrasse ist, auf der niemand zurück zum Anfang gehen kann (und in der Regel auch nicht möchte) – egal ob man unter diesem Anfang die menschliche Urzeit oder das vorsprachliche Kindesalter versteht –, ändert nichts daran, dass jene ursprüngliche Verbindung zwischen dem Menschen und der Natur nach wie vor vorhanden ist und häufig dort sichtbar wird, wo Theorie, Zivilisation und Sprache keine Rolle spielen: im direkten Kontakt mit der Natur.

Die Tatsache, dass jene Trennung zwischen den Begriffen Mensch und Natur etwas absurd ist, macht der Film übrigens gleich zu Beginn klar, wenn Abram konstatiert: «Nature is a tricky word: one that separates us from it». Mettler und Davie belegen dies mit schönen Bildern, etwa wenn sie Abram in den Grand Teton National Park im Westen Wyomings begleiten, wo dieser im Akt der Berührung eines alten Baumes feststellt, dass jene Wahrnehmung eine gegenseitige ist. Nicht nur kann er, Abrams, mit seinem Tastsinn die wechselhafte Struktur der Baumrinde wahrnehmen, sondern der Baum spürt auf seine Art durch chemische Prozesse auch die Gegenwart und die Berührung seiner Hand. Wahrnehmung sei, zumindest in der „Natur“, stets ein wechselseitiger Prozess, bei dem der Mensch nur ein kleiner Teil eines riesigen Netzwerkes sei, zu dem Tiere, Pflanzen und auch „unbelebte“ Objekte wie Steine gehörten. So entwirft Abram eine Art modernen Animismus – immerhin die allererste aller Religionen, entstanden in noch vorsprachlicher Zeit –, den es Mettler und Davie hier gelingt, in filmische Sprache zu übersetzen. Unter dem Grundsatz „everything is expressive“ wird versucht, so gut dies halt möglich ist, ein Kino zu entwerfen, das nicht mehr dem anthropomorphen Blick – dem human gaze – unterworfen ist. In der Bild- und Tongestaltung äussert sich dies in einer gleichzeitigen Intensivierung und Abstrahierung: unscharfe Kamerafahrten durch üppige Natur, begleitet von organisch anmutenden elektronischen Klängen, Arvo-Pärt-Chorälen und einer Geräuschkulisse, in der eine gänzlich andere Bedeutungshierarchie herrscht als im narrativen oder auch im traditionellen dokumentarischen Kino, das in der Regel vor allem Bedeutung produzieren will.

Und wenn Becoming Animal gewiss nicht frei von Bedeutung ist – dafür haben die Worte Abrams zu viel Gewicht –, ergibt sich in der Kombination aus dessen Thesen mit einer Art und Weise, wie eine weniger menschliche Wahrnehmung aussehen könnte, eine Art Eingangspforte in eine Welt, in der der menschliche Blick nicht mehr der allein gültige ist. Die Grenzen dieses Unterfangens sind nicht nur jene des Mediums, sondern der menschlichen Wahrnehmung selbst. Becoming Animal ist ein Filmessay, ein Versuch, einen Schritt in eine Welt hineinzutreten, die sich dieser Wahrnehmung in der Regel verschliesst. Als solcher erster Schritt ist Becoming Animal vollends geglückt. Man sieht dem Film zwar nicht direkt an, dass der Schneideprozess ein ganzes Jahr gedauert hat, aber man fühlt es, irgendwie. Gerade indem die Grenzen des Mediums erfahrbar gemacht werden – in seinen von digitalem Bildrauschen verzerrten Nachtaufnahmen, in seinen Bewegungsunschärfen oder in einer überraschenden Sequenz, in der wir den Flug eines Adlers nicht ganz aus dessen Perspektive, sondern aus der einer ihm auf den Rücken geschnallten GoPro-Kamera erleben –, erhalten wir einen Blick auf die unscharfen Grenzen der menschlichen Wahrnehmung. Es sind kleine Momente des Realen, die da an uns vorbeiwehen. Die Metapher ist bewusst gewählt, als Becoming Animal in seiner abschliessenden Denkbewegung auf den menschlichen Geist selbst zu sprechen kommt, der schon immer mit dem Wind in Verbindung gebracht wurde: flüchtig, unstofflich, unsichtbar – und doch alles bestimmend. Wie der Wind in der Natur dafür verantwortlich ist, die Pollen von einem Ort zum anderen zu tragen, und so überhaupt erst jenes unendlich komplexe System von Leben auf der Erde ermöglicht, ist der menschliche Geist – spirit – dazu fähig, durch sein ähnlich komplexes Netzwerk aus Neuronen diese Natur erst wahrzunehmen. Und weil die Trennung zwischen Mensch und Natur ja nur eine etwas überhebliche Einbildung ist, kann man zum Schluss kommen, dass dieser Mensch nicht viel mehr als ein Mittel der Natur ist, sich selbst wahrzunehmen – ein Spiegelbild der Natur gewissermassen. Das bedeutet nichts weniger, als dass in jenem Moment, in dem ein Mensch Becoming Animal auf der Kinoleinwand betrachtet – mutmasslich ein weiterer Spiegel –, die Möglichkeiten, wie beim Mise en abyme im Spiegelkabinett, unendlich sind.

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Becoming Animal | Film | Peter Mettler, Emma Davie | CH-UK 2018 | 78’ | Bildrausch Filmfest Basel 2018, Solothurner Filmtage 2019, Visions du Réel 2020

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First published: June 08, 2018