Aurora

[…] In «Aurora» – oder auch in Puius neuestem und absolut grandiosem «Sieranevada» – geht es um private und im Privaten verschlossene Konflikte, um Probleme, die sich eher andeuten als dass sie auserzählt werden würden, die sich eher richtungslos ausfalten als zuspitzen.

[…] In solchen Konfigurationen durchmisst Puiu die Grenzgebiete zwischen Innen und Aussen, zwischen Privatem und Sozialem. Nicht zufällig spielt «Aurora» immer wieder in den Treppenaufgängen von Mehrfamilienhäusern, zwischen Tür und Angel, in Wohnungstürrahmen, auf Parkplätzen, in einer Hotellobby.

Text: Lukas Stern

Aus einer bestimmten Perspektive ist ein bestimmtes Dilemma in Aurora das vielleicht interessanteste. Einmal sehen wir Viorel, gespielt vom rumänischen Regisseur Cristi Puiu selbst, unter der Dusche. Während er sich mit trägen Bewegungen einseift, wandert sein stoischer, stets zwischen soziopathischer Aggressivität und entrückter Teilnahmslosigkeit eingespannter Blick an die Badezimmerdecke; er entdeckt einen Wasserschaden, klettert nackt auf den Badewannenrand, tastet die feuchte Wand ab. Kurz darauf klingelt er bei der Familie, die in der Wohnung über der seinen lebt. Die Frau putzt gerade den Flur, kann Viorel deshalb nicht hereinbitten. Als sie erfährt, worum es geht, brüllt sie voller Zorn ihr Kind an, das offensichtlich den Schaden verursacht hat, und wirft fahrlässig mit dessen Spielzeug um sich. Eine Weile später, da sind die Möbelpacker gerade dabei Viorels Wohnung auszuräumen, kommt der Mann von oben mit seinem Sohn herunter, um sich einerseits den Schaden ansehen zu können und um andererseits seinem Spross, der sich mit gesenktem Kopf und voller einstudierter Scham in der Stimme bei Viorel entschuldigt, Anstand anzuerziehen. Es ist die Szene mit dem höchsten Dichtegrad in diesem Film. Etliche Menschen stehen sich in Viorels engem, unverputztem Flur gegenseitig im Weg, treten einander auf die Füsse: während die Umzugshelfer die Regalbretter ins Treppenhaus balancieren, kommt zudem noch die zornige Ehefrau des Nachbarn herunter, nur um von ihrem Mann sofort wieder nach oben geschickt zu werden. Wir selbst beobachten das Geschehen aus einem Nebenzimmer, sehen durch einen weiteren Türrahmen hindurch, sehen nur einen Ausschnitt dessen, was vor sich geht. In solchen Szenen, in denen sich derart viele Bewegungen, Motivlagen und Einzelanliegen auf engstem Raum zusammensammeln, in denen sich der Raum mit dramatischen Potenzialen förmlich eindickt, in denen die Zahl der Einzelgeschehen derart ansteigt, dass sie sich zu stapeln scheinen, in denen sich die Artifizialität der Raumkomposition mit dem lupenreinen Naturalismus im Sprechen der Figuren trifft, in denen sich zwischen diesen beiden Registern schon gar nicht mehr sinnvoll unterscheiden lässt, bekommt man die mittlerweile überaus distinkte, vielleicht manchmal unzugängliche, zumindest jedoch schwer auf den Punkt zu bringende Poetik Puius womöglich am besten am Schopf gepackt.

Cristi Puius Kino – und das geschieht nicht selten – nur als Abgrenzungskino zu sogenannten Mainstreampoetiken zu begreifen, die Radikalität seiner Filme schlicht als Kontrast zum Gewöhnlichen oder Gewöhnlicheren wahrzunehmen, seinen expansiven Umgang mit filmischer Zeit, die oft folgenlosen Kreisbewegungen seiner Figuren nur in einer Kinokomparatistik produktiv zu machen, läuft Gefahr, zu übersehen, wie stark seine Filme von innen heraus wirken, zu welchen dramatischen Verdichtungen Puiu anhand eines gewöhnlichen Wasserschadens vordringen kann. Gesellschaftspolitische Übertragbarkeitswerte findet man in Aurora nicht unbedingt auf der Ebene des Drehbuchs oder in der motivisch-narrativen Bewegung, sie liegen genau in solchen Verdichtungspotenzialen, dem An- und Abschwellen von Situationen. Die überschüssige Zeit, mit der Puiu operiert, die ultragedehnten Szenen, in denen die Protagonisten ihre Wege oft ohne erkennbares Ziel abschreiten, häufig sogar mehrfach abschreiten, in denen die Bewegungen teilweise auch für eine lange Dauer komplett zum Stillstand kommen, diese überschüssige Zeit ist nicht einfach langatmiger als man das aus anderen Filmen gewöhnt ist. Vielmehr ist sie das Material, aus dem etwa die Wasserschadenszene gebaut ist, sie ist das Prinzip, nach dem sich die komplexen Aggregatverschiebungen einzelner Geschehen verwirklichen.

Gefragt nach dem Bezug dieses Films auf eine gesellschaftspolitische Realität, lässt sich also gegenfragen: Was könnte im Kino grössere soziale Sprengkraft beweisen als dieser Wasserschaden? Tatsächlich – aus einigen Kritiken von 2010 liest man auch entsprechende Irritationen heraus – handelt Aurora zunächst nicht von makrogesellschaftlichen Strukturen und Dilemmata, wie man sie in vielen anderen Filmen der sogenannten rumänischen neuen Welle, zu denen auch Regisseure wie Cristian Mungiu oder Corneliu Porumboiu gehören, nachdrücklich finden kann. Häufig geht es dort etwa explizit um Korruption oder soziale Isolation. In Aurora – oder auch in Puius neuestem und absolut grandiosem Sieranevada – geht es um private und im Privaten verschlossene Konflikte, um Probleme, die sich eher andeuten als dass sie auserzählt werden würden, die sich eher richtungslos ausfalten als zuspitzen. Viorel wird in Aurora zum Mörder; er erschiesst vier Menschen, darunter auch seine ehemaligen Schwiegereltern. Von seinen Motiven oder Frustrationen wissen wir wenig. Wir wissen nur von seiner Entschlossenheit, die Gewalttaten zu begehen, wir wissen, dass er sie probt, dass er die Fluchtwege einstudiert, das Tatgewehr inspiziert; wir wissen, dass sich in seinem Blick Fatales ankündigt, wenn er seiner Exfrau und seinen Töchtern nachspioniert, wenn er sich dabei ängstlich umsieht, sich versteckt oder das Gelände prüft.

Das Private ist für Puiu kein Fundus, aus dem sich transparente Symbolwerte generieren lassen, es bleibt eine versiegelte Zone, ein nebulöser, opaker Innerlichkeitsraum: das unergründliche und bodenlose Epizentrum seiner Filme. Erst unter solchen Vorzeichen kann ein Wasserschaden an der Decke tatsächlich ein existenzielles Beben auslösen, ist er doch nichts anderes als ein Durchsickern des Äusserlichen in den Privatraum. Der Wasserschaden stellt das Private grundlegend in Frage, weicht es buchstäblich auf, löst die Raumgrenzen zwischen Innen und Aussen auf, indem er sich direkte Wege sucht, indem er die Bastion, für die sich das Private hält, angreift und einer äusseren Kraft unterwirft. In solchen Konfigurationen durchmisst Puiu die Grenzgebiete zwischen Innen und Aussen, zwischen Privatem und Sozialem. Nicht zufällig spielt Aurora immer wieder in den Treppenaufgängen von Mehrfamilienhäusern, zwischen Tür und Angel, in Wohnungstürrahmen, auf Parkplätzen, in einer Hotellobby. Und ja, vielleicht ist Aurora aus einer bestimmten Perspektive tatsächlich weniger ein Film über einen Mörder und stattdessen mehr ein Film über einen Wasserschaden, über eine mürbe, instabile, schadhafte Beziehung zwischen Menschen, über eine Gesellschaft, die sich aufweicht, in der permanent Fäulnis droht. In jedem noch so kleinen Wasserschaden steckt immer schon die Eventualität der Havarie.

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Aurora | Film | Cristi Puiu | 2010 | 181’ | Kino Xenix Zürich

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First published: March 22, 2017