As boas maneiras

[…] Dass der Film auf etwas anderes herauslaufen muss als auf die angedeutete lesbische Liebesgeschichte, ist nicht nur an diesen (vollmond-)nächtlichen albtraumartigen Ausflügen Anas abzusehen, sondern auch an der Raum- und Farbinszenierung von Dutra und Rojas, in der in pastellfarbenes Licht getauchte Innen- und Aussenräume eher zu einem Märchen als zum sich abspielenden Sozialdrama passen.

[…] Manche würden ihm vielleicht vorwerfen, dass er sich nicht entscheiden kann, welchem Genre er zugehörig sein will, und dabei übersehen, dass genau das der Punkt ist. Nur wenige Gesellschaften sind in ihrer Struktur heterogener als die brasilianische.

Gute Manieren, so der übersetzte Titel, sind das, wovon Werke wie diese – also sogenannte Arthouse-Genrefilme – gerade nicht zu viele haben sollten. Zumindest gilt dies, wenn sie einem als solche in Erinnerung bleiben wollen, die nebst etwas Sex und Gewalt und einer vorhersehbaren Plotentwicklung auch noch etwas von der Realität vermitteln wollen, an der sie gerade dank jener gefestigten Parameter oft näher dran sind als viele sich des Realismus lobende Dramen, bei denen die (inhärente) Konstruiertheit des Drehbuchs dann umso desillusionierender ins Auge fällt. Etwaige Originalitätserwartungen durch die gefestigten Mechanismen des jeweiligen Genretypus erst mal beiseite gestellt, kann der Genrefilm – sei er Liebesdrama, Horror- oder Märchenfilm – durch kleinste Variationen im Bauplan genau dort greifen, wo es zählt: in der Darstellung der Gemeinschaft und der gesellschaftlichen Verhaltensweisen gegenüber welchem Plotkonstrukt auch immer. In As boas maneiras, dem brasilianischen Jurypreisgewinner von Locarno, ist dies das Monster, und zwar in der Gestalt eines kindlichen Werwolfes. Ungezogen, wie dieser Film passenderweise ist, spielt er zwar einerseits mit den Konventionen des Genres und verweist auch auf seine Vorgänger, um diese dann aber stets wieder, vor allem was die Grundstruktur des Films angeht, wenn auch nicht ins Leere, dann doch mit Bestimmtheit woandershin laufen zu lassen.

Es beginnt als klassenübergreifendes Liebesdrama in São Paulo. Ana – weiss, reich und Tochter aus gutem Hause – stellt Clara – schwarz, arm und ohne Referenzen – als Kindermädchen für ihr noch ungeborenes Kind ein. Buchstäblich from the other side of the tracks, ist Clara das genaue Gegenteil von Ana, deren Luxusappartement, in dem die erste Hälfte des Films grösstenteils spielt, den allerschärfsten Kontrast zu Claras kleiner Wohnung am Rande der Favelas darstellt. Durch ihr mütterliches Temperament wird Clara schnell zum unverzichtbaren Teil von Anas Alltag. Die Klassenunterschiede werden sowohl durch eine gegenseitige Anziehung als auch durch Anas Aussenseiterrolle in der eigenen Gemeinschaft ausgehebelt, deren Verhalten insbesondere einmal im Monat so gar nicht der Manieriertheit der weissen Oberschicht Brasiliens entspricht. Dass der Film auf etwas anderes herauslaufen muss als auf die angedeutete lesbische Liebesgeschichte, ist nicht nur an diesen (vollmond-)nächtlichen albtraumartigen Ausflügen Anas abzusehen, sondern auch an der Raum- und Farbinszenierung von Dutra und Rojas, in der in pastellfarbenes Licht getauchte Innen- und Aussenräume eher zu einem Märchen als zum sich abspielenden Sozialdrama passen. Der Genrewechsel kommt erst auf leisen Pfoten daher, um dann schliesslich etwa in der Hälfte des Filmes nicht nur die Leinwand gleichsam von innen nach aussen zu kehren. Nichts von dem, was passiert, ist besonders überraschend, verläuft eben entlang des Genrespielplans, gleicht mit seinen inszenatorischen Ablenkungstaktiken aber doch eher einem perfekt ausgeführten Schleichangriff aus dem Hinterhalt – auf den Zuschauer, auf die Figuren, auf die guten Manieren. Man weiss, dass da etwas lauert, doch als es endlich zum Sprung ansetzt, war man mit den Augen ganz woanders.

Nunmehr mit aller Eindeutigkeit im Monsterfilm angekommen, vollzieht der Film dasselbe Manöver ein zweites Mal, und lässt das Monströse sich des nun folgenden Erziehungsdramas (neues vorgebliches Genre) bemächtigen. Anas allmonatlicher Schlafwandel, gekoppelt mit unersättlicher Fleischeslust, so viel weiss man jetzt, war das Resultat einer Begegnung mit einem Werwolf. Und waren in der ersten Hälfte die Männer bzw. alles Männliche mehr oder weniger abwesend, allerhöchstens noch im hors-champ präsent, so drängt es sich nun in der Form des siebenjährigen Jungen Joel in den Vordergrund – ganz so, wie sich dessen wölfischer Haarwuchs einmal im Monat unübersehbar dessen Gesicht bemächtigt. Dass Clara diese Haare jedes Mal wieder säuberlich entfernt und dass sie Joel während der Vollmondnächte jeweils buchstäblich in Ketten legt, ist natürlich genauso zwecklos wie die Hoffnung, dass das Monster im Horrorfilm sich vielleicht dieses eine Mal im Zaum halten lässt – dass das Genre diesmal auf seinen Ausbruch verzichtet. Das tut es zu Claras und Joels Leidwesen zwar nicht, doch es könnte sein – die märchenhaften Pastellkontraste haben es von Beginn weg angedeutet –, dass noch ein anderes Genre im Hinterhalt auf seine Machtübernahme wartet.

Mit seiner über zweistündigen Laufzeit, den Genrekapriolen und der allgemeinen Missachtung der Gefühle des Zuschauers würde As boas maneiras durch jeden filmischen Benimmkurs fallen. Manche würden ihm vielleicht vorwerfen, dass er sich nicht entscheiden kann, welchem Genre er zugehörig sein will, und dabei übersehen, dass genau das der Punkt ist. Nur wenige Gesellschaften sind in ihrer Struktur heterogener als die brasilianische. Diese ins Korsett nur eines Genres zu quetschen, mag in einzelnen Fällen zwar angemessen gut funktionieren, würde aber in diesem Fall alle Anstrengungen zunichtemachen, irgendetwas Sinnvolles, Reales über diese Gesellschaft auszusagen. Homogene Ästhetiken können da nur zu homogenen Wahrheiten führen, was an sich schon ein Widerspruch ist. Der Weg dahin mag im Fall von As boas maneiras etwas überlang, um nicht zu sagen langwierig sein, und durchaus vom Blut der Unschuldigen getränkt. Doch es liegt in diesem schlechten Betragen auch eine kindliche Entdeckungs- und Zerstörungslust, der man einerseits kaum böse sein kann, und die andererseits im zeitgenössischen Welt-/Arthauskino eine mehr als willkommene Abwechslung darstellt. Etwas, das wohl noch nicht vielen lesbischen Werwolf-Horror-Märchendramen auf solch einnehmende Weise gelungen sein wird.

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As boas maneiras / Good Manners | Film | Marco Dutra, Juliana Rojas | BR-FR 2017 | 135’ | Locarno Festival 2017, Black Movie Genève 2018, Kino Rex Bern, Cinéma CityClub Pully

Special Jury Prize at Locarno Festival 2017

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First published: January 26, 2018