Arábia

[…] Das Auffälligste an "Arábia" ist vielleicht dessen Struktur, die einen erstmal buchstäblich in die Irre führen zu wollen scheint - bis sich herausstellt, dass gerade in dieser Irre ein wichtiger Punkt dessen liegt, was der Film erreichen will.

[…] Dumans und Uchoa entwickeln eine Poesie des Alltäglichen in einem Leben ohne Alltag, finden dafür wunderschön komponierte Bilder, die gleichzeitig dokumentarisch wirken. Das Licht ist natürlich, die Lieder improvisiert, die Charaktere zum grossen Teil echt.

«Bitterness, recriminations, advice, morality, sadness – everything was behind him, and ahead of him was the ragged and ecstatic joy of pure being» - Jack Kerouac, On the Road

Nur selten gelingt es einem Film, dem von Kerouac hier beschriebenen Lebensgefühl zu entsprechen, das sich in dessen bekanntestem Werk On the Road weder über den Plot oder über seine Figuren äussert (beziehungsweise sich auf den Leser überträgt), sondern alleine über die atemlose Sprache, mittels der die Realität eine Art poetische Intensität erhält, die bei manchen auch Jahre nach dem Lesen noch nachklingt. Gar nicht gelungen war dies ironischerweise Walter Salles mit seiner Verfilmung von Kerouacs Roman, der zwar Plot und Figuren originalgetreu wiedergibt, in seiner Wirkung aber kaum etwas von der Intensität und der ekstatischen Poesie von Kerouacs Sprache zu übermitteln vermochte. Zufälligerweise war es derselbe Walter Salles, der João Dumans’ und Affonso Uchoas Arábia den Festivalprogrammierern von Fribourg als besonders repräsentativ für das zeitgenössische brasilianische Filmschaffen empfahl, und es ist Arábia, in dem Kerouacs verlorene Poesie der Strasse (zumindest für mich) deutlich aufblitzt, ohne sich aber direkt auf diesen zu beziehen oder diesen zu imitieren. Was mich bei Arábia an On the Road erinnert, ist nebst seinem umherstreifenden Protagonisten ebendiese Nachwirkung der (Film-)Sprache, die alles ein wenig zum Glänzen bringt – die Landschaft, aber insbesondere auch die Menschen – und diesen Glanz ein wenig auf die Realität zu übertragen vermag. Und im Vergleich zu dem 60 Jahre alten Text wirkt diese Realität im Film durch einen sich sanft durchziehenden sozialen Realismus eindeutig melancholischer. Und doch betrachtet man nach Arábiatrotz Traurigkeit über deren Ungerechtigkeiten – die Welt und die Menschen in einem neueren, vielleicht weniger harschen Licht als zuvor.

Das Auffälligste an Arábia ist vielleicht dessen Struktur, die einen erstmal buchstäblich in die Irre führen zu wollen scheint – bis sich herausstellt, dass gerade in dieser Irre ein wichtiger Punkt dessen liegt, was der Film erreichen will. Die ersten 20 Minuten handeln von Andre, der in Ouro Preto, einer Kleinstadt im brasilianischen Südwesten, neben einer Fabrik lebt, deren Staubemissionen die Fensterbretter und die Lungen schwarz färben, und in der abgesehen davon kaum etwas los ist. Man bekommt das Gefühl (in diesem Film ist alles, insbesondere alles Psychologische, nie mehr als angedeutet), dass Andre die Stadt, in die er nicht richtig hineinzupassen scheint, am liebsten verlassen würde, doch wir erfahren ausser dem liebevollen Umgang mit seinem kleinen Bruder eigentlich kaum etwas über ihn. Über seine Mutter, die Krankenpflegerin ist, kommt er in den Besitz der Notizbücher von Cristiano, der nach einem Unfall in der Fabrik im Koma liegt. Als er schliesslich beginnt, in diesen zu lesen, ändert der Film das Register vollständig, ja fängt im Grunde erst jetzt an, und handelt für den Rest der Spielzeit nur noch von Cristianos Leben als Wanderarbeiter in der brasilianischen Provinz.

Wie Kerouacs Protagonist Sal Paradise lässt sich dieser von Ort zu Ort treiben – weniger aus Abenteuerlust denn aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, auf der Suche nach in der Regel schlecht bezahlter und saisonal beschränkter Arbeit. Er pflückt Mandarinen, schleppt Kisten, baut Strassen und arbeitet in Fabriken, wobei er und seine Mitarbeiter von den Arbeitgebern und Fabrikbesitzern meistens als billige oder gar unbezahlte Arbeitskräfte ausgenützt werden. Der Film, der jetzt Cristianos Erzählung ist und der dessen sanfte Entwicklungen im (sozialen, politischen) Wahrnehmungsvermögen selber mitmacht, deutet jene politisch-sozialen Situationen immer nur am Rande an, und besteht eigentlich aus einer losen Abfolge aus scheinbar unbedeutenden Momenten, die diese Art Leben in der Summe ausmachen. Die Leute, die er trifft, und die Geschichten, die diese erzählen – jede mit ihrem eigenen angedeuteten Potenzial, zur Haupthandlung des Films zu werden, etwa so wie Cristiano diesen von Andre übernommen hat –, und die Lieder, die sie gemeinsam singen, allesamt traurig und wunderschön zugleich. Eine Art Utopie, in der die individuelle Welterfahrung des anderen – des Arbeiters, des Herumstreichers – hier für einmal eine Äusserung findet, die nachfühlbar wird, als Cristiano sich entschliesst, sie niederzuschreiben. So ist seine Reise nicht nur eine äussere, die ihn schliesslich nach Ouro Preto in die Fabrik führt, sondern vor allem eine ins Innere, mit den unzähligen kleinen Begegnungen, den gemeinsam gesungenen Liedern und den poetischen Beobachtungen als unverzichtbaren Zwischenetappen. Und das ist, so wie es im Film umgesetzt ist, trotz aller Mühsal, schwieriger Umstände und tragischer Unfälle schöner und berührender als fast alles andere.

Dumans und Uchoa entwickeln eine Poesie des Alltäglichen in einem Leben ohne Alltag, finden dafür wunderschön komponierte Bilder, die gleichzeitig dokumentarisch wirken. Das Licht ist natürlich, die Lieder improvisiert, die Charaktere zum grossen Teil echt. In einer Szene unterhält sich Cristiano mit einem älteren Lastwagenfahrer darüber, was am mühsamsten zum Tragen sei. Zement sei das Schwerste, nein, Dachziegel, Brennholz, Ziegel und Kürbisse, nein, am allerschlimmsten seien lebendige Schweine. Angenehm hingegen – und die Augen des alten Mannes beginnen dabei zu leuchten – sei Fischfutter, auch wenn man danach stinke; sowie Kartoffeln und Schaummatratzen, Kaffee und Saatgut. Es ist nur jene einzige Einstellung, in der der Lastwagenfahrer auftritt, und wenn uns Cristiano an ihrem Ende per Voice-over mitteilt, dass dieser kurz später an Diabetes verstorben sei, sind wir ähnlich traurig, so als ob wir ihn und nicht Cristiano schon den ganzen Film über begleitet hätten. Jeder hat seine eigene Geschichte, heisst es früh im Film einmal, und kaum etwas führt uns Arábia so deutlich vor die Augen wie die Tatsache, dass jede dieser Geschichten unermessliche Bedeutung und unermessliche Poesie in sich trägt, auch und gerade wenn sie nirgends niedergeschrieben werden, sondern nur als Anekdoten in der Erinnerung jener weiterleben, deren Weg sie in ihrem Leben zufällig gekreuzt haben. Arábia setzt all diesen unerzählten Geschichten ein kleines Denkmal.

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Arábia | Film | João Dumans, Affonso Uchoa | BR 2017 | 96’ | FIFF 2018

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First published: March 27, 2018