Anna Odell | X & Y

[…] Realität ist ein Faktor im Kinofilm, Kunst ist der zweite. Und das irritierende Spiel mit diesen Faktoren macht die schwedische Künstlerin und Regisseurin Anna Odell fruchtbar.

[…] «X & Y» ist absolutes Metakino, das neben allem anderen einen kritischen Blick wirft auf weibliche Regiearbeit, die schneller infrage gestellt wird als männliche, genauso wie auf Produktionsprozesse, die mehr auf Skripte denn auf künstlerische Intuition setzen.

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Text: Dominic Schmid | Reading: Matthias Koch | Concept & Editing : Lena von Tscharner

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Film ist vielleicht das Medium, das am meisten mit dem Thema Authentizität zu kämpfen hat. Im postmodernen Realitätstheater eines Milo Rau beispielsweise ist man sich als Zuschauer durchaus bewusst, dass ein Stoff – sogar wenn irritierend autobiografisch und persönlich – am nächsten Abend aufs Neue glaubhaft inszeniert, vorgetragen, re-enacted wird. Theater lebt vom Live-Erlebnis, das allen eine inszenierte, aber beglaubigte Authentizität vorführt. Das Medium Film hingegen, insbesondere natürlich der Dokumentarfilm, steht für einen anderen Blick auf die Realität: Dokumentation von realen Menschen, realen Orten, realen Geräuschen gehören dazu – mit den entsprechenden filmischen Mitteln. Gleichzeitig ist aber Kino paradoxerweise die Illusionskunst schlechthin in ihrem Versuch, der Realität so nah wie möglich zu kommen.

Wie dem auch sei: Realität ist ein Faktor im Kinofilm, Kunst ist der zweite. Und das irritierende Spiel mit diesen Faktoren macht die schwedische Künstlerin und Regisseurin Anna Odell fruchtbar. Ihr Filmprojekt X & Y (Spielfilm oder Dokumentarfilm sind beides Begriffe, die sich in diesem Fall verflüchtigen) ist eine kluge Gratwanderung, mit der Odell über den Film hinaus kokettiert. Das tut sie, indem sie sich selbst und den in Schweden sehr bekannten Schauspieler Mikael Persbrandt als Protagonisten einer Versuchsanordnung verpflichtet. Der Versuch soll nichts mehr oder weniger, als das Konzept von (Geschlechts-)Identität zu erforschen genauso wie die absolute Wahrheit. Beides ist besonders schwer zu fassen, wenn es sich wie in diesem Fall um öffentliche Personen handelt. Er ist der Inbegriff einer gefährlich attraktiven und starken Männlichkeit, der viele Drogen- und Alkoholexzesse hinter sich hat. Sie als Künstlerin mit dem Hang zu irritierenden Projekten, wie etwa einem öffentlich inszenierten Nervenzusammenbruch, dessen Kunstpotenzial gerichtlich beglaubigt werden musste, oder ihrem früheren Filmprojekt The Reunion, worin Odell ehemalige Klassenkameraden mit nachgespielten Mobbingszenen aus ihrer Schulzeit konfrontierte. Was Odell hier also in die  Versuchsanordnung schickt, die vom Setting her eindeutig bei von Triers Dogville Anleihen macht, sind öffentlich bekannte Archetypen: ein Alpha-Mann und eine übergeschnappte Künstlerin, beide eher narzisstisch.

Der Wahrheit dieser so typischerweise am Geschlecht aufgemachten Protagonisten will Odell im Film mit Alter Egos näherkommen. Darum werden je drei Schauspielende verpflichtet, einen Aspekt der Protagonisten Anna und Mikael zu vertiefen und während der ganzen Zeit im Studio nicht den Charakter zu verlassen. So sitzen sich also neben Original-Mikael und -Anna beim Frühstück je drei Alter Egos gegenüber: eine ängstliche (Jens Albinus), eine sexuelle (Vera Vitali) und eine künstlerische, intellektuelle und logische (Sofie Grabol) Anna sowie ein gefährlicher, triebgesteuerter (Thure Lindhart), ein rationaler (Trine Dyrholm) und ein theaterliebend-kreativer (Shanti Roney) Mikael. Dieser hochkarätige Cast hat nun die Aufgabe, sich einzufühlen in die Rollen und im Studio, das über mehrere Tage genauso wie die Rollen nicht verlassen wird. Die Alter Egos und das Original schlafen im selben Bett, sie proben und pröbeln ohne Skript, dessen Existenz Odell stets bestätigt, aber sich weigert, es auszuteilen.

Schon bald kommen Zweifel genauso wie sexuelle Lüste auf, die Grenzen verwischen. Und die Ersten, die das Feld räumen, sind symbolischerweise die künstlerischen Alter Egos. Sofie setzt dem skriptlosen Tun Annas ein Ende, als diese angeblich ihre eigene sexuelle Frustration an ihr lösen will, und beschuldigt sie, nicht mehr unterscheiden zu können zwischen dem Grenzenrespektieren und Kunst. Das kunstaffine Alter Ego Mikaels wiederum zeigt sich unfähig, zu improvisieren, und verharrt in künstlichen Textrezitationen, die niemanden weiterbringen. Spätestens als Anna in der zweiten Studiosession schwanger ist und von einem «Kunst-Baby» spricht, beginnen alle an ihrer Projektvision und ihren Fähigkeiten als Regisseurin zu zweifeln. Und spätestens hier entpuppt sich X & Y als sehr kluges und lustvolles Spiel zwischen «Huis clos» und «Big Brother», zwischen Realität und Fiktion, zwischen öffentlicher und privater Identität, zwischen Exhibitionismus und Experimentierfreude. Kurz: X & Y ist so künstlich wie künstlerisch. X & Y ist absolutes Metakino, das neben allem anderen einen kritischen Blick wirft auf weibliche Regiearbeit, die schneller infrage gestellt wird als männliche, genauso wie auf Produktionsprozesse, die mehr auf Skripte denn auf künstlerische Intuition setzen. 

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X & Y | Film | Anna Odell | SE 2018 | 112‘ | Bildrausch Filmfest Basel 2019

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First published: June 25, 2019