Alle die du bist
[…] «Alle die du bist» ist auch ein modernes Melodram, das vom Ende einer Liebe erzählt. Was macht man, wenn man spürt, dass man für den Partner plötzlich keine Gefühle mehr hat?
Text: Pamela Jahn

«Dann haben Sie falsch geguckt»: Der Satz, der gleich zu Beginn von Michael Fetter Nathanskys Film fällt, brennt sich ein. Die Frau, die ihn sagt, ist Nadine (Aenne Schwarz), eine Macherin, die, so wie es scheint, mit beiden Beinen im Leben steht. Ihrem Partner Paul (Carlo Ljubek) gelingt das weniger gut. Er leidet an Panikattacken, immer wenn er unter Druck gerät. In der Eingangssequenz muss Nadine ihn aus einem Heizungskeller rauslocken, in dem er sich nach einem missglückten Vorstellungsgespräch verbarrikadiert hat.
Es geht hier also ums Sehen. Oder besser: um das, was sich dem Bewusstsein erst auf den zweiten Blick erschliesst. Als Nadine ihren Mann in den Arm nimmt, um ihn zu beruhigen, klammert sie sich zuerst um einen Stier, der angesichts der Wärme und des Mitgefühls, das sie ihm entgegenbringt, zu einem kleinen Jungen wird. Im ersten Moment ist man als Zuschauer verwirrt, weil das Magische abrupt und ohne Vorankündigung in das Reale eingreift. Aber bald wird klar: Paul ist Tier, Kind, Teenager, Mann und Freundin in einem – er ist «alle» zugleich.
Michael Fetter Nathansky hat einen klug beobachteten Film über zwei Menschen in der Krise gedreht. Auch Nadine hat mit sich zu kämpfen und mit den verschiedenen Rollen, die sie erfüllt: als die ewig Starke, die Pragmatikerin, als engagierte Fabrikarbeiterin, Mutter zweier Töchter und fürsorgliche Partnerin. Am meisten macht ihr dabei zu schaffen, dass sie in ihrem Schleuderzustand aus Erschöpfung, Sehnsucht, Verzweiflung und Bitterkeit emotional abzustumpfen droht.
Alle die du bist ist auch ein modernes Melodram, das vom Ende einer Liebe erzählt. Was macht man, wenn man spürt, dass man für den Partner plötzlich keine Gefühle mehr hat? Wie konnte das passieren? Und warum?
Nathansky stellt Fragen, hält sich aber nicht mit Erklärungen auf. In szenischen Rückblenden rekonstruiert er aufmerksam den Verlauf der Beziehung zwischen Nadine und Paul, das erste Kennenlernen, den ersten Flirt, die guten und die schlechten Zeiten, bis hin zum Schmerz. Worauf es dem Regisseur und Drehbuchautor dabei ankommt, bringt er in seiner Inszenierung skizzenhaft anhand von treffenden Momentaufnahmen und feinen Details zum Ausdruck: dass ein geliebter Mensch zu einem Fremden werden kann, ohne sich zu verändern. Es ist der Blick auf das Gegenüber, der sich verschiebt. Je mehr sich die sozialen und psychologischen Umstände überlagern, desto gewaltiger werden die Eruptionen. Perspektiven bewegen sich wie Erdplatten, langsam, fast unmerklich, bis die Reibung irgendwann zur Eskalation führt.
Rätselhaft bleibt dabei einzig die zentrale Figur, um die sich im Film alles dreht. Nadine ist verschwiegen, eine Frau mit Ecken und Kanten, die ihre Gefühle nur selten und ungern nach aussen trägt. In ihr schwelt eine tiefe Angst, an der sie sich festklammert, die sie vom Leben abhält und die sie gleichzeitig am Leben hält.
Dass Nathansky sich nicht für das Wieso und Warum seiner Figuren und von deren Handlungen oder Gemütszuständen interessiert, macht die Faszination von Alle die du bist aus. Die Kamera versteht es, genügend Abstand zu halten, um die Wirkung der magischen Elemente nicht im Keim zu ersticken, was ihnen stattdessen eine seltsame Natürlichkeit verleiht. Je weiter das Beziehungsdrama voranschreitet, desto mehr bleibt Paul er selbst, ein Mann, der um seine Liebe zu Nadine und mit seiner labilen Psyche ringt. Aber Nadine kann, sosehr sie es versucht, auch auf den zweiten Blick nicht mehr klar erkennen, was sie zu ihm hingezogen hat. Es ist diese schmerzliche Wahrheit, die den Film trägt.
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Info
Alle die du bist | Film | Michael Fetter Nathansky | DE-ES 2024 | 108’ | Berlinale 2024 | CH-Distribution: Cineworx
First published: June 11, 2024