66 Kinos

[…] «66 Kinos» wird so zu einem hochwertigen Röntgenbild der zeitgenössischen deutschen Cinephilie.

[…] Es wird oft gesagt, dass für einen Film eine Liebesgeschichte und ein Verbrechen nötig sind. Nun, in «66 Kinos» gibt es beide Elemente: die Liebe zum Kino und dessen langsames Sterben.

[…] Und hier geht es nicht nur um das Kino als Kunst, sondern auch um das Kino als Ort, als Architektur: Dekadenz und Vitalität der Cinephilie verspiegeln sich oft in der Dekadenz und der Vitalität von aussergewöhnlichen historischen Strukturen.

Das Making-of ist sicherlich eine in letzter Zeit weit verbreitete filmische Praxis. Aber bei seinem letzten Film, Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe, hat Philipp Hartmann eine Art „After-Making“ erfunden, da 66 Kinos während einer Reise entstanden ist, welche der Autor gemacht hat, um seinen vorherigen Film (Die Zeit vergeht…) unter die Leute zu bringen. Während dieser Reise zeichnete Hartmann mit seiner Kamera eine Landkarte der deutschen Arthouse-Kinos. Tatsächlich findet heute nicht nur die Produktion, sondern auch der Verleih eines Experimentalfilms oft ausschliesslich dank persönlicher Treffen in kleineren Gruppen von Filmliebhabern statt. 66 Kinos wird so zu einem hochwertigen Röntgenbild der zeitgenössischen deutschen Cinephilie.

Hartmann setzt auf einen scheinbar improvisierten, spontanen und direkten Stil, der es uns ermöglicht, eine Reise voller Entdeckungen, Kuriositäten, Geschichten, einzigartiger Orte, exzentrischer Charaktere zu machen. Das gemeinsame Element der Leidenschaft für das Kino ist unweigerlich mit einer Form des militanten Widerstandes gegen den sogenannten „Tod des Kinos“ verbunden; aber manchmal erzeugen die Nostalgie für das goldene Zeitalter des Kinos und die Depression vor dem gegenwärtigen digitalen Zeitalter fast eine Traueratmosphäre, obwohl diese von freundlichen Don Quijotes belebt wird. Es wird oft gesagt, dass für einen Film eine Liebesgeschichte und ein Verbrechen nötig sind. Nun, in 66 Kinos gibt es beide Elemente: die Liebe zum Kino und dessen langsames Sterben. Und hier geht es nicht nur um das Kino als Kunst, sondern auch um das Kino als Ort, als Architektur: Dekadenz und Vitalität der Cinephilie verspiegeln sich oft in der Dekadenz und der Vitalität von aussergewöhnlichen historischen Strukturen.

Warum zieht das Kino als kollektive Erfahrung und das Kino als Kunstwerk immer weniger Publikum an? Wie erneuert man die Leidenschaft für die Filmkunst? Sind öffentliche Subventionen notwendig, um Strukturen und Filme zu retten? Inwieweit muss sich die Cinephilie an die neuen Formate der Filmnutzung anpassen, die zunehmend mit den sogenannten „Special Events“ verbunden sind? 66 Kinos ist ein Reservoir von Überlegungen über die Frage des Todes des Kinos und, auch wenn die Stimme von Lars Henrik Gass mehr als jede andere ein gemeinsames Gefühl des Pessimismus zu verkörpern scheint, nimmt Hartmann nicht Stellung, will nicht eine Theorie beweisen oder eine bestimmte Lösung vorschlagen. Auch wenn wir beim Anschauen des Films manchmal ein besseres Verständnis und eine bessere Problemanalyse erwarten würden, liegen die Stärke und das Interesse von 66 Kinos doch weniger in der Studie und in der Diagnose eines Problems, sondern mehr in der Dokumentation der Realität und ihrer Vielfalt. Durch seine Reise und seine Begegnungen (angereichert mit dem vielfältigen Online-Archivmaterial auf der Website 66kinos.de) gibt Hartmann uns viele Einsichten und Ideen: Es ist dann an uns, zu einer Idee – Verzweiflung oder Hoffnung – zu kommen, aus der Vergangenheit zu lernen und uns die Zukunft vorzustellen.

Die Digitalisierung des Kinos bewirkt eine heftige Umwandlung, ebenso, wie der Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm für die Kinolandschaft heftig war. Aber die Krise des Kinos durch die Digitalisierung kann auch ein besonders produktiver Moment sein, ebenso, wie die erste grosse Krise des Kinos mit dem Aufkommen des Fernsehens produktiv war. In diesem Zusammenhang zitiert Hartmann selbst Wim Wenders’ Meisterwerk Im Lauf der Zeit, das 1976 eine filmische Reflexion über die Krise des Kinos zwischen Nostalgie und Regeneration vorschlug. Die zitierte Sequenz ist diejenige, in der die beiden Protagonisten ein Schattenspiel improvisieren, um das Kinopublikum zu unterhalten: ein Schritt zurück in die Frühzeit des Kinos und zu den theatralischen Wurzeln des Kinos als Veranstaltung, als illusionäres Wunder. Und gleichzeitig ein Schritt nach vorn in Richtung einer Neuformulierung der Kinovorstellung: Philipp Hartmann begleitet persönlich seinen Film im Kinosaal und diskutiert seinen 66 Kinos gerne. Er scheint die alte Tradition des reisenden Kinos zu erneuern, da er nach der Vorstellung im Kino Rex in Bern nach Ilanz, Aarau und Zürich fährt. Vielleicht ist 66 Kinos „notwendigerweise“ nicht nur eine Kinoprojektion, sondern auch eine Diskussion, eine Begegnung mit dem Autor, eine Reise, auf und neben der Leinwand.

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66 Kinos | Film | Philipp Hartmann | DE 2017 | 94’ | Kino Rex Bern, Kino Xenix Zürich, Kino Freier Film Aarau, Cinema Sil Plaz Ilanz

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First published: January 24, 2018