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In den Gängen
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Ganz selten legt sich die Stimme von Franz Rogowski, der den Christian spielt, den neuen „Regal-Auffüller“, über die neonbelichteten Gänge eines Warenhauses in der ostdeutschen Provinz. Sie kommt aus dem Off. Sie kommt aus einer ganz besonders diffusen Zukunft, aus einer Zukunft, zu der dieser Film eigentlich noch gar keine Beziehung pflegen kann. Vielleicht sind diese seltenen Momente die schönsten in Thomas Stubers In den Gängen – sie machen aus dem Kauf- und Arbeitsraum einen Erinnerungsraum, einen Privat-, einen Persönlichkeitsraum.
Christian verliebt sich in Marion (Sandra Hüller), seine Kollegin aus der Süsswarenabteilung. Der liebenswürdige Bruno (Peter Kurth) lehrt ihm das Gabelstaplerfahren (Gabelstaplerfahren ist eine Virtuosenkunst; Stuber übertreibt es mit der Inszenierung – genau deshalb ist sie auch so liebevoll), oft machen sie „eine fünfzehn“, eine Raucherpause. Natürlich, In den Gängen ist ein Blick hinein in eine bestimmte Lebensrealität in Ostdeutschland – aber nie wird dieser Film allzu politisch-allegorisch, er nährt keinen „Abgehängten“-Diskurs, er versteht sich nicht als kinematografischen Solidaritätszuschlag. Er erzählt vielmehr in den Gängen eine Geschichte zwischen den Gängen, über das, was alles stattfindet und stattfinden kann in den schmalen Fluren zwischen den meterhohen Warenschränken: Liebe, Freundschaft, Kollegenschaft, Arbeit, Lernen, Sterben – das ganze Material einer zukünftigen Erinnerung eben.
In den Gängen | Film | Thomas Stuber | DE 2018 | 125‘
Petit Frère
Den Bogen, den Petit Frère beschreibt – am Anfang sehen wir eine blanke, weisse Malerleinwand; am Ende sehen wir sie bemalt mit sich überlagernden, bunten Pinselstrichen –, ist ein Bogen in die Abstraktion. Zwar ist die Leinwand (die des Malers und die des Kinos: Sie sind natürlich ein und dieselbe) nun mit Formen überzogen, aus der Tabula rasa wurde ein buntes Gemälde, aber dieses Bild ist nicht konkret, nicht figurativ. Dieser Bogen – von einer Einstellung am Anfang zu einer am Ende des Films – beschreibt womöglich am besten das dokumentarpraktische Verständnis des Regieduos Roberto Collío und Rodrigo Robledo: In ein Thema, ein Sujet vertieft man sich nicht, man zerfliesst vielmehr darin. Insofern wäre es auch falsch zu sagen, dass im Zentrum dieses Films der haitianische Einwanderer Wilner Petit-Frère steht, der an einer Tankstelle jobbt (immer nachts) und nebenbei an einer Broschüre (vielleicht auch an einem Magazin, ganz klar ist das nicht) für die haitianische Gemeinschaft in Chile arbeitet – mit Texten und Fotos über das Leben, die Vergangenheit, die Zukunft und die Identität einer Generation von Migranten. Mit assoziativen, nicht selten auch humorvollen Querverbindungen und dezentraler Linienführung zeichnet Petit Frère (er zeichnet buchstäblich) ein halb onirisches, halb visionäres Bild über den Einzelnen in einer Gemeinschaft von Migranten innerhalb der fremden chilenischen Gesellschaft. Ein Bild, das am Ende folgerichtig in eine Marslandschaft einmündet – in eine Art zivilisatorische Tabula rasa also.
Petit Frère | Film | Roberto Collío, Rodrigo Robledo | CHL 2018 | 70‘ | Visions du réel 2018
Packing Heavy
Dass es der Welt, die Darío Mascambroni in Packing Heavy entwirft, am Elementaren fehlt, sieht man gleich am Anfang. Da sitzen fünf zwölfjährige Jungs im Kreis auf dem Boden und beatboxen. Die Musik muss ohne Instrumente hausgemacht werden, wenn man sie hören will. Auch am T-Shirt muss man riechen, bevor man es anzieht, denn die Waschmaschine funktioniert nicht mehr, und die Haare werden einem nicht vom Friseur, sondern vom Bruder eines Kumpels im Hinterhof vom Kopf rasiert. Eine Pistole und zwei Schachteln Munition hingegen liegen sofort bereit, sobald man sie braucht. Es sind dramatisch verschobene Zustände, innerhalb derer die Jungs, allen voran Tómas, der sich mit einer Mischung aus Trauer und kindlicher Unbeholfenheit am Mörder seines Vaters rächen will, in ihre Pubertät hineinwachsen.
Die besondere Stärke von Packing Heavy besteht nicht darin, die Lebensrealität der Kinder am staubigen und baufälligen Rand einer argentinischen Stadt mit klagendem Miserabilismus aufzuladen, sondern darin, tatsächlich die Frage nach dem (Hinein-)Wachsen zu stellen, die klassische Frage einer Coming-of-Age-Erzählung also, nur eben unter besonderen Vorzeichen, innerhalb besonderer Zustände. Es gibt ein schönes Bild, das diese Frage permanent am Leben erhält – es ist fast den ganzen Film über zu sehen. Tómas trägt das Fussballtrikot, das einst wahrscheinlich sein Vater trug. Es ist ihm viel zu gross, aber – und in diesem Bild liegt mehr Zuversicht, als es geschrieben klingen mag – er wird hineinwachsen.
Packing Heavy | Film | Darío Mascambroni | ARG 2017 | 68‘ | FIFF 2018
Screenings at FIFF 2018