Quand on a 17 ans

[...] Zwischen dem Dorf und dem Gebirge, zwischen den Jahreszeiten, zwischen den Körpern bleibt somit dieses «Zwischen», das nie aufgehoben werden kann, aber gleichzeitig die stärkste aller Verbindungen schafft.

[...] Dass jeder auf seine Art liebt und begehrt und sich die Begehrenden in ihrem Begehren folglich nur verpassen können: Dies ist es, was Téchiné den Körpern seinen Protagonisten so genau abzulesen weiss.

Die Kamera fliegt über die Landstrasse in den Alpen, entlang von Bergen und Tälern und vom Sommer in den Winter. Ebenso rast das Kino von André Téchiné immer vorwärts, von einer Jahreszeit in die nächste und von einem Körper zum andern. Nichts bleibt jemals stehen, alles ist immer im Fluss. Und wie die Jahreszeiten dabei wiederkehren, kommt bei Téchiné ohne Unterlass das zurück, was niemals innehalten lässt: das Begehren zwischen Körpern. Um dieses «Zwischen» zu zeigen, das also, was nicht in einen Dialog, eine Figurenzeichnung, die Entwicklung der Handlung – also ins Drehbuch passt, muss man ein echter Cineast sein. Téchiné ist einer.

Im strahlendsten Sommer gleitet man also während des Vorspanns kurz unter einem Tunnel durch, um sich flux im nebelverhangenen und verschneiten Winter wiederzufinden. Hier, mitten in den französischen Alpen, leben Thomas und Damien, beide um die siebzehn. Thomas wohnt in einem Städtchen bei seiner Mutter, die Ärztin ist (der Vater ist Militärhubschrauberpilot und auf Auslandseinsatz); Damien wohnt in den Bergen auf dem Hof seiner Adoptiveltern. Die beiden, scheint es, können sich nicht ausstehen: In der Schule sind Prügeleien zwischen ihnen an der Tagesordnung. Dennoch sorgt die Mutter von Thomas dafür, dass Damien, der einen langen Schulweg hat, zu ihnen in die Stadt zieht, um sich besser auf das Baccalauréat vorbereiten zu können. Wodurch erst recht deutlich wird, dass die extreme Abneigung, die Thomas und Damien immer wieder körperlich aufeinanderprallen lässt, in Wahrheit einer magnetischen Anziehungskraft gehorcht.

Téchiné zeigt meisterhaft, wie das, was sich abstösst, sich gegenseitig will, und das, was sich gegenseitig will, sich abstösst. Zwischen dem Dorf und dem Gebirge, zwischen den Jahreszeiten, zwischen den Körpern bleibt somit dieses «Zwischen», das nie aufgehoben werden kann, aber gleichzeitig die stärkste aller Verbindungen schafft. Diese paradoxe Art der Anziehung entsteht in Téchinés Filmen meist dadurch, dass sich zunächst einer von zweien verweigert. Denn der Begehrte wendet sich oft dermassen gewaltsam ab oder lässt seine Wünsche in solcher Ungewissheit, dass die Intensität, in der er das tut, sich stets eindeutig an den Begehrenden adressiert und damit ein festes Band zwischen ihnen knüpft. So ist hier zunächst Thomas der Begehrende. Damien lässt Thomas rankommen und sich von ihm küssen – um ihn dann beinahe überrascht von der eigenen Geste an die Wand zu schleudern. Je n’embrasse pas hiesst ein früherer Film von Téchiné (1991), und auch hier verkündet Damien entschieden: «On ne couche pas avec moi!». Braucht es einen (Thomas), der weiss, dass er auf Männer steht und sich in seinem Begehren sicher ist, dann braucht es einen anderen (Damien), der nicht genau weiss, was er will; aber der in seiner Abwendung vom anderen sich ihm darbietet, um zu zeigen, dass das Objekt der Begierde nie genau dem entspricht, was er zu begehren glaubt; weil es immer noch etwas gibt, was irgendwo im Begehrten verborgen ist: das Begehren des Begehrten selbst. Damien, der Schönling, von seinen Eltern adoptiert und mit ungewisser Herkunft, konserviert in sich genau dieses Enigma, wenn er in einer klirrenden Winternacht seinen Körper aus den Klamotten schält und in einen eisigen See springt. Weswegen man dessen Körper prügeln und schütteln muss, damit er endlich zeigt, was er will; damit er dem Begehren, das sich auf ihn bezieht, endlich antworten kann. Und gleichzeitig wird dadurch die ewige Aporie nur deutlicher: Man kann den anderen nicht lieben an der Stelle, an der er selbst liebt, an der er selbst ein Liebender ist.

Dass jeder auf seine Art liebt und begehrt und sich die Begehrenden in ihrem Begehren folglich nur verpassen können: Dies ist es, was Téchiné den Körpern seinen Protagonisten so genau abzulesen weiss. Denn diese Körper sind ständig unterwegs – auf singuläre, unberechenbare Art. Der Rhythmus von Damien und Thomas hat sich an niemand anderen anzugleichen. Sie sind Aussenseiter, Einzelgänger. Sie haben nur sich und ihre Familien, sind also nur dadurch bestimmt, wo sie herkommen (die Familie), und dadurch, wo sie hinwollen (aufeinander zu). Diese Körper, die aufeinander zurasen und sich zurückstossen, die sich aneinander reiben und aufheizen, um dann in winterkalte Seen zu springen, um sich abzukühlen, sind Körper, die einzig ihrem eigenen Vermögen und Drang gehorchen, sich zu bewegen. Es gibt kaum eine Einstellung bei Téchiné, die nicht diesem Drang nachgibt, nicht diese Energie in den Körpern der Protagonisten dekliniert. Auch wenn sie sich nicht prügeln (oder, das kommt dann später, sich lieben), können sie immer noch über Wiesen rennen oder auf einen Boxsack eindreschen. Selbst am Küchentisch lässt sich noch armdrücken.

Über Téchinés Rendez-vous (1985) hat Serge Daney geschrieben, dass hier alle Verabredungen verpasst werden, nicht aufgrund der Drehbuchmechanik, sondern weil sich jeder Körper in seiner eigenen Geschwindigkeit bewegt. Auch in Quand on a 17 ans verdanken die Körper ihre Energie keinem Drehbuch, keinen psychologischen Ideen. Wenn sie sich verpassen, dann im Konkreten, im Physischen. So drücken die Jahreszeiten keine abstrakten, szenaristisch verordneten Gemütszustände aus, sondern lassen in ihrer Wiederkehr die Körper immer wieder aufeinandertreffen, mal erhitzt, mal erkaltet, ohne je das richtige Milieu, die richtige Temperatur, das richtige «Zwischen» anbieten zu können, in dem sie sich endgültig begegnen könnten (denn der Wechsel, die nächste Jahreszeit wird kommen – auch über das Happy End hinaus).

Daher ist Téchinés Kino ein Kino der Mise en Scène. Die illustriert hier kein Drehbuch, sondern kann gerade dort ansetzen, wo die Sprache des Drehbuchs nicht mehr trägt. Etwa, wenn Damien in seiner Spanischklasse ein gebrochenes Handgelenk nicht korrekt als «muñeca rota», sondern «muñeca casada» bezeichnet, als «verheiratetes Handgelenk». Oder wenn später, im dritten Teil des Films, Thomas’ Vater gestorben ist und seine Mutter zu Damien sagt: «Merci de ne rien dire». (Ebenso wie sie schon zuvor ihrem Sohn gesagt hat, der ihr seine Liebe zu Damien gesteht: «Je t’écoute, je t’ai rien à dire»). Mise en Scène setzt da ein, wo die Sprache aufhört. Sie allein «verheiratet» Dinge, die zerbrochen sind, sie drückt das «Nichts» aus, das zwischen den Figuren steht, das sie trennt und erneut aufeinanderprallen lässt. Sie ist die schiere Evidenz einer aporetischen Sprache, einer Sprache des Nichtsprechens. Nur dadurch kann die Gewalt der Kontrolle und Vorherbestimmung der Figuren, das jeder Drehbuchsprache immer zu eigen ist, in Schach gehalten werden. Mise en Scène = Nichts sagen, zwischen den Körpern filmen, damit diese sich erneut begegnen können.

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In Kollaboration mit Filmbulletin

Info

Quand on a 17 ans | Film | André Téchiné | FR 2016 | 116’

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First published: December 15, 2016