Manchester by the Sea

[...] Und Kommunikation heisst hier dezidiert nicht das, was als Dialog im Drehbuch steht, sondern die Art und Weise, wie etwas ausgesprochen wird, vom Tonfall über den Dialekt bis — und das ist für seine Inszenierung zentral — für das, was eben nicht ausgesprochen wird: fallengelassene Anspielungen, kleine Zeichen des Worte-nicht-finden-könnens oder -wollens.

[...] Immer wieder taucht — und ist dies nebst der allgemeinen Ungerechtigkeit des Lebens nicht dessen trotziges Entschädigungsangebot — der Humor auf, gerade da, wo man ihn am wenigsten vermuten würde.

Der Plotbeschrieb von Manchester by the Sea lässt ein Melodrama vermuten, besser gesagt eine spezifische Unterform davon, das male weepie. Ein Mann verbringt ein zurückgezogenes und sozial unterkühltes Leben, bedeutsame menschliche Beziehungen weist er von sich, das anfangs nicht weiter erklärte innere Brodeln äussert sich in ab und an emotionalen Ausrastern oder Gewaltausbrüchen. Erst durch eine anfangs widerwillig eingegangene Freundschaft zu einer potentiellen Partnerin bzw. einer Tochter- oder Sohnfigur, die seine Hilfe benötigt, kann der Protagonist langsam wieder zu sich finden, seine Gefühle oder seine traumatische Vergangenheit in Ordnung bringen, um am Schluss des Films nach einem vom Drehbuch bereitgestellten kathartischen Moment geläutert ins neue Leben starten. Soweit das Schema, in der Filmgeschichte zigfach durchgespielt — als repräsentatives Beispiel aus der letzten Zeit lässt sich etwa Clint Eastwoods nennen.

Nun ist Kenneth Lonergan, dessen dritter Film nach You Can Count on Me (2000) und Margaret (2001) zumindest zu Beginn fast sämtliche der oben genannten Topoi durchspielt, kein Regisseur, der sich für irgendwelche Schemata interessiert, sondern ein Dramatiker, der sich in seiner ersten Karriere beim Theater ein nahezu unvergleichliches Gespür für die Art entwickelt hat, wie Menschen miteinander kommunizieren. Und Kommunikation heisst hier dezidiert nicht das, was als Dialog im Drehbuch steht, sondern die Art und Weise, wie etwas ausgesprochen wird, vom Tonfall über den Dialekt bis — und das ist für seine Inszenierung zentral — für das, was eben nicht ausgesprochen wird: fallengelassene Anspielungen, kleine Zeichen des Worte-nicht-finden-könnens oder -wollens. Die Inszenierung steht dabei ganz im Dienste des Schauspiels und bleibt dabei offen für Improvisationen oder zufällige Entwicklungen im Geschehen, wie etwa wenn während einer hochtragischen Situation eine Trage sich sträubt, in den Krankenwagen geladen zu werden, und so der Tragik ein konkretes absurd-komisches Element beimischt, das sich ohnehin schon durch den ganzen Film zieht, und das Lonergans Filme eben gerade vom angestrengt Melodramatischen abhebt.

All dies bedeutet keineswegs, dass das erhaben Tragische, das die Geschichte von Manchester by the Sea durchaus auszeichnet, irgendwie unterminiert würde, sondern wird so um einen tief affektierenden Realismus angereichert, der Erzählungen im Muster der klassisch-tragischen Plotentwicklung oft abgeht. Weiter abwesend ist jegliche Katharsis, nach der die Figuren, an ihr gewachsen und geläutert, der Zukunft entgegenblicken können, die durchlebte Tragödie dabei nicht viel mehr als eine Metapher für die allgemeinen Schwierigkeiten des Lebens, unter denen alle mehr oder weniger zu leiden haben. Das Trauma, das die Hauptfigur Lee (Casey Affleck) mit sich trägt, ist unvorstellbar und banal zugleich. Es definiert das gesamte Wesen Lees und stellt eben nicht einfach etwas dar, dass es küchenpsychologisch zu verarbeiten und somit zu überwinden gilt. Lee weigert sich bis zum Schluss des Films und darüber hinaus, hier irgend etwas hinter sich lassen zu wollen, sich mit der Grausamkeit des Zufalls und seiner eigenen Schuld zu versöhnen. Auch nicht mit seiner Exfrau Randi (Michelle Williams), deren Angebot zum Gespräch er sich verweigert, wie auch der Möglichkeit, die neue Tragödie, den Tod seines Bruders zum Anlass zu nehmen, wieder ein handeln-könnender Mensch zu werden, indem die Vormundschaft für seinen Neffen Patrick (Lucas Hedges) übernimmt. Der Unterschied, den es macht, dass die Pistole des Polizisten, mit der er sich das Leben nehmen wollte, gesichert war, ist nicht viel mehr als ein biologischer, nicht mehr als den Körper betreffend.

Die winterliche Kälte, die in den zahlreichen Aufnahmen der New England-Küstenstadt Manchester-by-the-Sea nicht nur die Handlung situiert, sondern auch als ein ziemlich präzises Abbild von Lees Seele fungiert, wird sich in seinem Fall nicht zum Frühling entwickeln. Wenn sich in Patricks Fall die Trauer über den Tod seines Vaters im Unbehagen darüber äussert, dass dieser wegen dem zugefrorenen Friedhofsboden einige Monate im funeral home verwahrt werden muss, im Frühling aber sowohl dieser beerdigt sowie die Trauer verarbeitet sein wird, so wird Lee in seinem eingefrorenen Zustand verharren. «I can’t beat this», sagt er zu seiner Exfrau, wobei die Bedeutung von „this“ offenbleibt, wie auch jene von „can’t“, denn die Vermutung liegt nahe, dass Lee gar nichts verarbeiten will, zumal es Dinge gibt, die gar nicht verarbeitet werden können.

Es ist Lonergans Inszenierung sowie den allesamt herausragenden Darstellern zu verdanken, dass das Filmerlebnis von Manchester by the Sea nicht einmal annähernd so unerträglich ist, wie es diese Beschreibung vermuten liesse. Immer wieder taucht — und ist dies nebst der allgemeinen Ungerechtigkeit des Lebens nicht dessen trotziges Entschädigungsangebot — der Humor auf, gerade da, wo man ihn am wenigsten vermuten würde. In der störrischen Trage, in der Unfähigkeit Lees, die Mutter einer der zwei Freundinnen Patricks auch nur eine halbe Stunde abzulenken, damit diese nicht ständig bei den „Hausaufgaben“ gestört werden, im Passanten, der die raue Nähe zwischen Lee und Patrick missversteht und sarkastisch als „great parenting“ kommentiert. Man muss genau hinschauen und zuhören, denn das Unausgesprochene ist hier tiefer und menschlicher, als es grosse Gesten, tränenreiche Versöhnungen oder kathartische Gewaltausbrüche je sein könnten.

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Manchester by the Sea | Film | Kenneth Lonergan | USA 2016 | 137

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First published: February 11, 2017