Klaus Lemke

FLASHBACK BILDRAUSCH 2016

«Das Wichtigste ist, filmverrückt zu sein»
Der Filmemacher Klaus Lemke war einer der Begründer der Neuen Münchner Gruppe. Anlässlich von Bildrausch traf ihn Simon Koenig für Filmexplorer zum Interview.

Text: Simon Koenig

Eine schlaksige Gestalt biegt um die Ecke, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Es ist Klaus Lemke. «Mick Jagger meets Udo Lindenberg», hat mal jemand über ihn gesagt. Und berühmt ist auch er. Seine Filme 48 Stunden bis Acapulco (1967) oder Rocker (1972) machten ihn zum Star der deutschen Filmszene. Wir gehen in die italienische Bar gleich gegenüber dem ehemaligen Kino Türkendolch, wo alles begann damals im München der 60er. Sogleich legt er los, eine Einstiegsfrage erübrigt sich. «Wir sassen damals den ganzen Tag im Türkendolch. Dort liefen die Filme von Howard Hawks, John Ford oder Budd Boetticher. Sie galten zu jener Zeit als totalen Trash! Einer von uns kannte die Platzanweiserin und wir anderen sind heimlich rein und versteckten uns unter den Sitzen. Dort wurden wir zu Zelluloid. Während sich die deutschen Intellektuellen von der Gruppe 47 und dem Oberhausener Manifest den Dissidenten im Ostblock zuwandten, zog es uns uneingeschränkt zum amerikanischen Kino. Und diese amerikanischen Gangsterfilme, die wir sahen, hielten wir für dokumentarisch, für vollkommen echt! So war unsere Welt».

Simon König (SK): 1967 entstand 48 Stunden bis Acapulco. Wie kam es dazu?

Klaus Lemke (KL): Unser grösster Held damals war der Schauspieler Robert Mitchum. Und eines Tages sahen wir in der Zeitung, dass unser Hero in Handschellen abgeführt und in ein Gefängnis von Acapulco gebracht wurde. Und der Grund war Marihuana. Wir hatten keine Ahnung was Marihuana ist. Es konnte uns auch keiner sagen.

SK: Und daraus entstand die Idee nach Mexiko zu reisen und einen Film zu drehen?

KL: Es ging von Anfang an nur darum, dass wir nach Acapulco reisen, Marihuana kaufen und Blondinen sehen wollten. Aber wir hatten überhaupt keinen Pfennig – wir hatten nicht mal Geld um ein Bier zu trinken. Dann habe ich Monika Zinnenberg kennengelernt. Die war klein und hübsch und hatte schon ein paar Nacktfilme gedreht. Sie wurde meine Freundin. Und dann haben wir sie in die Bars losgeschickt. Einem hat sie dann eingeredet, wir hätten ein Drehbuch geschrieben. Darauf hat der das Geld für den Film gegeben und sein Bruder kriegte dann eine der Hauptrollen. Als wir in Rom zu drehen begannen, kamen wir der Wahrheit schon näher und wussten: Marihuana wird aus gerösteten Bananenschalen gemacht. In unseren teuren Hotels – die konnten wir uns ja nun leisten – haben wir dann die Schalen geröstet und geraucht. Später in Acapulco, im Zentrum des Drogenhandels, haben wir nichts gekriegt. Wir stellten uns so dumm an, dass die Leute dachten wir seien Drogenfahnder. Dafür haben wir dann einer der besten deutschen Filme gedreht.

SK: Und die Dreharbeiten?

KL: Wir wussten, die erste Aufnahme musste sitzen. First shot! Das hatten wir von Hawks gelernt. Wir dachten: Fuck it, kein Problem! Aber wir hätten letztlich auch gar nicht gewusst, was wir beim zweiten Take verbessern sollten. Schnitt-Gegenschnitt, ja generell, dass der Film geschnitten wird, war uns nicht bewusst. Aber ich kannte tausend Filme auswendig und wusste daher wie das ungefähr auszusehen hatte. Aber auch die Leute, mit denen wir zusammenarbeiten wollten, mussten genauso ahnungslos sein wie wir. Sonst wäre alles aufgeflogen. So haben wir einen Film gemacht, wie wir es aus dem Kino kannten. Das war der Zauber von Acapulco; wir hatten von Nichts ‘ne Ahnung. Und das macht die Filme so schön.

SK: Weil eine so grosse Freiheit dahinter steckt?

KL: Ja. Eine Freiheit, die es dann nie wieder gab. Denn diese dauert nur solange bis man sich ihrer bewusst wird. Dann ist Schluss. Dies gilt generell für die guten Eigenschaften. In dem Moment, wo man weiss, wie man gute Filme macht, kommt der übliche Quatsch raus. Digger, pass mal auf: Das, was uns als Persönlichkeit ausmacht, ist nicht das, was wir richtig machen. Es sind unsere Fehler. Als Musterschüler kommt man nicht in den Kopf der Leute rein.

SK: Sie arbeiteten sehr intuitiv, beflügelt von einer grossen Selbstüberzeugung?

KL: Wir hielten uns für die Grössten und waren auch die Grössten. Denn wir waren die Einzigen, die damals gesehen hatten, wie die Bundesrepublik später eine amerikanische Kolonie wurde. Zum Glück keine russische! Aber wir hatten nichts gegen die Russen, die haben ja Adolf weggepustet. Wir hatten etwas gegen die Deutschen! Denn im Deutschland der Nachkriegszeit herrschte die komplette Spiessigkeit und Langeweile. Die Leute hatten die Fresse voll von Politik. Sie wollten ein Auto!

SK: Es war auch die Zeit der Aufarbeitung der Naziverbrechen. Der erste Auschwitz-Prozess...

KL: Das war natürlich entscheidend. Wir wussten lange Zeit nach dem Krieg nicht was da passiert ist. Das wurde verdrängt. Wir sahen dann diesen französischen Film Nuit et brouillard von Resnais und der hat uns alle umgehauen. Es war der entscheidende Anstoss für Baader-Meinhof in den Untergrund zu gehen. Sie hassten ihre Väter. Sie machten sie dafür verantwortlich. Ihre Väter waren Pastoren, die Verpflichtung zum Widerstand gehabt hätten. In Wirklichkeit war das alles ein Kampf gegen die Eltern.

SK: Ob Terrorist oder Filmer, es herrschte derselbe Geist?

KL: Derselbe Geist, den die Jungs dann pervertiert haben. Die machten ihre Filme direkt mit dem Leben. Eigentlich wollte auch Andreas Baader zum Film. Wie wir alle. Er sass hinter uns im Kino Türkendolch. Bloss hatte er einen solch merkwürdigen Dialekt, dass wir ihn in unseren Filmen nie besetzt haben. Dann wurde er Terrorist.

SK: Sie schlossen sich dann mit Gleichgesinnten zur Neuen Münchner Gruppe zusammen.

KL: Ich habe Werner Enke entdeckt und zusammen drehten wir wunderschöne Kurzfilme, wie etwa Henker Tom oder Kleine Front. Der Film handelt von Leuten, die aus dem Kino kommen, nachdem sie Hawks Film Hatari! gesehen haben. Ein Film über Grosswildjäger. Darauf spielen sie Hatari! nach, klauen einen Wagen, fahren an den Bayrischen See um Forellen zu fischen. Aber natürlich kriegen sie nichts an die Angel. Es war eigentlich ein Film über uns. Genauso wie Godards Film A bout de souffle. Auch der erzählt unsere Geschichte. Ein Typ, der zu viel im Kino gesessen hat und dann die Filme im echten Leben nachspielt. Später war Enke dann beleidigt, als ich ohne ihn 48 Stunden bis Acapulco drehte. Da hat er seine Freundin genommen, May Spils, die auch keine Ahnung von Film hatte, und zusammen haben sie Zur Sache, Schätzchen gedreht und sind dabei Millionäre geworden. Nichts ist besser als aus ein bisschen Wut heraus, einen Film zu drehen.

SK: In ihren Filmen spielt der Dialekt eine wichtige Rolle. Warum?

KL: Da ist der Schweizer Max Zihlmann schuld. Durch ihn haben wir erfahren, dass man amerikanische Filme im Original sehen kann. Natürlich haben wir nicht gedacht, dass die Leute in diesen Filmen deutsch sprechen. Aber seit Hitler wurde in Deutschland alles synchronisiert. So war es wie eine Wiedergeburt die gleichen Filme im Original zu sehen. Plötzlich erfuhren wir, dass es Dialekte, Slangs gibt. Das war schockierend. Darauf habe ich nur noch gelegentlich Schauspieler engagiert. Denn mit ihrem Hochdeutsch bieten sie überhaupt nichts an Authentizität. Dieses Deutsch erfasst heute nichts mehr – ausser wie man einen VW baut. Es ist etwas Nützliches geworden. Wir kapierten also plötzlich, dass Filme nicht durch die Bilder leben. Die Stimme ist das Wichtigste überhaupt und doch sind wir vollkommen verknallt in eine Bilderwelt. Orson Welles hat es auf den Punkt gebracht: «Was richtig klingt, ist auch gut.» Und da liegt auch das Geheimnis des amerikanischen Kinos. So begann ich Filme zu drehen, die ein Deutsch hatten, das dem Englisch eines Mick Jaggers gleichkam.

SK: Und dies ist der Grund, warum Sie mit Laiendarsteller arbeiten?

KL: Damit ich ein wenig von dieser deutschen Identität kriege. Das Deutsch endlich wieder anders klingt als im Theater. Deswegen Rocker und Zuhälter.

SK: Was bedeutet Ihnen das Filmemachen?

KL: Es ist ein Vergnügen. Ich dreh die Filme nur für mich und mit meinem Geld. Ich mach die Filme, weil sie mir gefallen und drehe jene Filme, die ich gerne sehen möchte. Und wenn sie mir nicht gefallen, lasse ich sie weg oder lösche sie. Auf drei Filme die ich drehe, werfe ich zwei weg.

SK: Das tut nicht weh?

KL: Doch. Aber ich mache es nur für mich. Ich bin doch kein Staatsdiener, kein Angestellter.

SK: Sie bewerben sich nicht für Gelder der Filmförderung...

KL: Das ist das Allerletzte. Das gibt Staatskino. Das war immer so. In der Weimarer Republik, dann natürlich ganz gross unter Hitler. Danach gab es fünfzehn Jahre Freiheit bis Alexander Kluge mit dieser Totengräberidee kam, den Film staatlich zu fördern. Vorher war der Film eine Dienstleistung – wie noch heute in den USA – nun hat der Staat seine Finger drin und der Film wurde zum Kulturgut. Seit 50 Jahren haben wir hier in der Filmbranche keinen freien Wettbewerb mehr.

SK: Aber Preisgelder akzeptieren Sie?

KL: Ungern – aber die nehme ich natürlich. Auch wenn dieses Geld über Steuern finanziert wird.

SK: Und warum soll die staatliche Filmförderung schlecht für Deutschland sein?

KL: Weil es keine deutschen Filme mehr gibt. Er ist tot, gestorben.

SK: Ein deutscher Film?

KL: Ein Film der etwas zeigt, was mit unserem Leben zu tun hat. Aber trotz allem gibt es ja auch gutes deutsches Kino. Gerade Wild (Nicolette Krebitz, 2016 [A.d.R.]) war grossartig. Auch die Filme von Petzold und Dominik Graf mag ich sehr gerne. Das sind Genrefilme und ich liebe sie. Beides sind Regisseure, die ihre Fehler zeigen und damit ihre Filme zu etwas Persönlichem machen. Je besser ein Film gefällt, umso besser erkennt man sich selbst darin, wenn auch in einer anderen Variation. Das ist doch der ganze Voodoo.

SK: Und das Kino, ist es für Sie wichtig?

KL: Ich gehe jeden Tag ins Kino und sehe mir alle Filme an. Egal was. Aber jeweils nur in der frühen Nachmittagsvorstellung. Dann ist das Kino leer und keiner frisst Popcorn. Haut sich jemand neben mir ne Tüte Popcorn rein, ist es aus. Tödliche Irritationen. In den USA ist das Popcornfressen nicht so schlimm. Da wird der Film so laut abgespielt, dass auch mal ne alte Oma den Film erklärt bekommen kann. Aber hier denkt man ja die Lautsprecher könnten kaputt gehen. Aber das Kino ist eh tot. Das home cinema wird kommen. Und bald kann man dann zu Hause die grossen Premieren sehen.

SK: Sie haben das Filmemachen beim Filmen gelernt. Trotzdem: Haben Sie es nie vermisst, eine Filmschule zu besuchen?

KL: Filmschulen sind der letzte Quatsch. Da lernt man wie man eine Kamera bewegt, aber man muss lernen das Publikum zu bewegen. Das kann man nicht lernen. So ist das Wichtigste überhaupt, filmverrückt zu sein.

SK: Aber Ihre Filme schneiden Sie nicht selber.

KL: Mein Cutter weiss, wo das wirklich Persönliche in meinen Filmen verborgen und wie es rauszuholen ist. Ich kann das nicht. Aber ich bin immer dabei im Schnitt. Das ist die schönste Zeit überhaupt.

SK: Warum?

KL: Keine Drogen, kein Bier, keinen Sex, um Zehn ins Bett und um Sechs wieder raus. Disziplin und nichts Anderes. Ein Spinner, der was anderes behaupten würde. Im Schnitt ist kein Fasching. Das ist wie ein VW zusammenzusetzen. Auch das kann man nicht besoffen tun. Ich muss ertragen können, meinen Film vierzig Mal zu sehen. Und muss dabei sicher sein, dass da keine Laune einfliesst. Dafür braucht es für ungefähr sechs Wochen eine stabile Umgebung.

SK: Und das entspricht Ihnen?

KL: Das ist das Grösste überhaupt. Ich weiss genau, dass ich mich auf mich selbst verlassen kann. Diese Nüchternheit tut sehr gut, hin und wieder.

SK: Und wo liegt die Herausforderung?

KL: Es wird dann schwierig, wenn man den Film zum dreissigsten Mal sieht. Man muss ihn anschauen können, als wär’s das erste Mal. Die meisten Leute finden ihren Film nach dem dritten Mal extrem Scheisse. Im Unterschied zu den Anderen finde ich dann einen Punkt und weiss einen Weg wieder rauszukommen. Darum können junge Leute doch nicht so einfach Filme machen. Sie kommen aus ihrem Loch nicht mehr raus und finden ihren Film nach dem zehnten Mal den letzten Dreck. Da bin ich Profi.


Klaus Lemke schloss sich in den 1960er-Jahren mit Rudolf Thome, Eckhart Schmidt, Max Zihlmann, Marran Gosov, May Spils, Martin Müller und Werner Enke zur Neuen Münchner Gruppe zusammen. Wie andere vor und nach ihnen wollten auch sie den Film von den Konventionen und Zwängen des bürgerlichen Milieus befreien. Das Interview entstand im Zusammenhang von Bildrausch – Filmfest Basel. Im Programmfenster Springtime in Munich wurden vom 25. bis 29. Mai 2016 Filme der Neuen Münchner Gruppe gezeigt. Das Interview erschien in gekürzter Version in der Basellandschaftlichen Zeitung.

Info

Klaus Lemke | Interview | Simon Koenig | Springtime in Munich, Bildrausch 2016

On the Section «Springtime in Munich» at Bildrausch Basel 2016

First published: June 20, 2016