Claire's Camera

[…] Ehrlichkeit, Kunst und Markt, menschliche Beziehungen und kreative Zusammenarbeit, Weltanschauungsweisen und der Zoom als eine mögliche Art genau solchen Anschauens, Spiegelungen, Alter Egos, Autobiografisches – «Claire's Camera» ist das Potpourri der Perspektiven, die er auf sich zulässt.

[…] Es sind bizarre und zugleich profane Weisen des Kommunizierens, des Agierens und Reagierens, die Hongs Kino beleben. Deutlich wird das etwa, wenn Manhee zum Abschied noch ein Selfie mit der stocksteifen Chefin schiesst, oder wenn Claire einen übergrossen Hund, der auf der Strasse döst, mit winkenden Händen begrüsst.

[…] Der Punkt ist der, dass eben dieses Werden ohne Widerstände wird, dass es keiner Erklärung bedarf, dass das Kino eine endlos elastische Sache ist, bei der nichts so nebensächlich sein könnte, dass es nicht zur Hauptsache werden würde.

Text: Lukas Stern

Hoch gehen die Stufen hinauf, dahinter sieht man das Meer; rechts und links von der Treppe grüne Sträucher und Bäume. Die Silhouette eines Mannes ist zu erkennen, der den Weg nach oben nimmt, drum herum leuchtet alles in grellem Himmelsgelb – ein Bild aus Godards Le Mépris. Und das Poster-Motiv der internationalen Filmfestspiele von Cannes 2016. In Hong Sang-soos Claire's Camera, der eben während dieser Ausgabe des Festivals spielt und gedreht wurde und ein Jahr später auch auf ebendiesem Festival Premiere feierte, sehen wir das Poster einmal in der verglasten Türe eines Cafés hängen. Später sehen wir noch eine Kolonne von Renault-Limousinen mit verdunkelten Scheiben und schwarz-goldenen Fähnchen auf den Kühlerhauben. Sie zwängen sich durch die engen Gassen, die so oder so immer auf die Croisette führen – auf die Promenade also, auf der die Stars schaulaufen, auf der sie von Limousinen ausgespuckt und wieder aufgesammelt werden. 

Claire's Camera ist selbstverständlich – nicht nur, aber auch – ein Film über das Festival: über ein Festival, bei dem in diesem Jahr sogar gleich zwei Filme von Hong gezeigt wurden. Als solcher wird der Film aber in einer geradezu unfestlichen Optik entworfen. In der ersten Einstellung sehen wir eine Frau in einem provisorisch eingerichteten Büro. Sie schreibt etwas auf – hochkonzentriert. Um sie herum liegen Festival-Kataloge, um ihren Hals hängt die schwarze Akkreditierung für Marktbesucher. Die Kamera zoomt auf ihren Körper, aus dem Off hören wir einen langsamen Auszug aus Vivaldis Winter. Es ist Manhee, gespielt von Kim Min-hee, Hongs Dauerprotagonistin, die da sitzt und langweilige Arbeit für eine Filmvertriebsfirma verrichtet. Einige Szenen weiter wird sie an einem Café-Tisch von ihrer Chefin entlassen – mit sofortiger Wirkung. Angeblich könne man nicht auf ihre Ehrlichkeit vertrauen. In Wahrheit ist es aber die Eifersucht, die die Chefin zu diesem Schritt bringt, denn diese ist mit dem Regisseur So Wansoo (klarerweise das Alter Ego von Hong San-soo) liiert, und dessen kreatives Schaffen steht und fällt mit seinen Sehnsüchten und Gefühlen nach und für seine Muse Manhee. Und wenn der Zoom auf die feinen Bewegungen Kims – den weit über den Tisch gebeugten Kopf, die lang hinter den Ohren fallenden Haare – gepaart mit einem zwischen den Schneestürmen zur Ruhe gekommenen Vivaldi so etwas wie eine Funktion erfüllt, dann ist es die, Manhee als personifizierte, geradezu feenhafte Ehrlichkeit und Reinheit zu inszenieren.

Ehrlichkeit, Kunst und Markt, menschliche Beziehungen und kreative Zusammenarbeit, Weltanschauungsweisen und der Zoom als eine mögliche Art genau solchen Anschauens, Spiegelungen, Alter Egos, Autobiografisches – Claire's Camera ist das Potpourri der Perspektiven, die er auf sich zulässt. Isabelle Huppert, die bereits in In Another Country (2012) mit Hong zusammenarbeitete, betritt den Film, spielt die Lehrerin Claire, die nur zu Besuch in Cannes ist und die leidenschaftlich gerne Fotos schiesst, für deren Schönheit sie laufend gelobt wird, ohne dass wir diese Fotos zu sehen bekämen. Sie spielt aber selbstverständlich auch sich selbst. Isabelle Huppert, Dauergast in Cannes, Superstar nicht nur des französischen Kinos, betritt die Hinterbühne des Festivals, die Gassen der Innenstadt, die Wohnungen, Appartements und die bezahlbaren Restaurants. Isabelle Huppert, getarnt als Lehrerin, trifft Hong Sang-soo, verkleidet als So Wansoo an einem Café-Tisch. Ob sie ihn auf Google finden könne, fragt sie und lässt sich den koreanischen Namen buchstabieren. «Ja», meint So und sieht ihr bei der Eingabe seines Namens ins Smartphone zu: ein Kennenlernen, Körper an Körper, und dennoch nimmt es den unendlich weiteren Weg über einen Satelliten.

Es sind bizarre und zugleich profane Weisen des Kommunizierens, des Agierens und Reagierens, die Hongs Kino beleben. Deutlich wird das etwa, wenn Manhee zum Abschied noch ein Selfie mit der stocksteifen Chefin schiesst, oder wenn Claire einen übergrossen Hund, der auf der Strasse döst, mit winkenden Händen begrüsst. Zu hundert Prozent sei man einer Meinung, versichern sich Manhee und Claire, die sich am Strand begegnen und über die Ödnis des Verkaufsgeschäfts sprechen. Mehrmals stimmt man sich zu: eine Mischung aus unbeholfener Smalltalk-Dynamik und allertiefster Seelenverwandtschaft. Immer wieder kommt Claire's Camera (wie viele andere Filme Hongs auch) an Esstischen und Café-Tischen an: die Orte, an denen sich genau diese Mischungen mischen und unendlich vertiefen – bis in den Vollrausch hinein, in dem alles immer ehrlicher wird.

Die Schönheit dieses Films misst sich aber nicht einfach nur an der Lobbesingung des Alltäglichen, des flüchtigen Smalltalks und des gemeinsamen Essens im chinesischen Schnellrestaurant; auch nicht schlicht im Kontrast dessen zur glitzernden Festivalwelt, von der wir kaum etwas sehen; sie misst sich ebenso nicht an der komplex gewordenen Vielheit der Perspektiven, an dem analytischen Erforschen der Bruchlinien, an denen die Wirklichkeit (das Autobiografische, das Selbstdarstellerische) in die Kunst hinüberfliesst. Sie misst sich vielmehr an der Widerstandslosigkeit, durch die hindurch sich dieser Film in seine nur einstündige Zukunft hinein entwirft. Der Punkt ist nicht, dass es möglich wird, dass das Leben zur Kunst wird; nicht, dass das, was rechts und links vom Kino liegt, rechts und links der roten Teppiche und Premierenfeiern, selbst wiederum zum Kino wird. Der Punkt ist der, dass eben dieses Werden ohne Widerstände wird, dass es keiner Erklärung bedarf, dass das Kino eine endlos elastische Sache ist, bei der nichts so nebensächlich sein könnte, dass es nicht zur Hauptsache werden würde. Kaum irgendwo sonst überzeugt die Elastizität des Kinos so sehr wie bei Hong. Die Lyrik – so sagt es Claire einmal – sei keine so schwere Sache. Jede und jeder könne Lyrik produzieren, schreiben, filmen. Auf diesen Satz folgt ein von Manhee gesungenes Gedicht. Es geht so: «One, One, One, One, Two, Two, Two, Two, Three, Three, Three, Three, Four, Four, Four...» – und so weiter.

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Claire's Camera | Film | Hong Sang-soo | FR-KOR 2017 | 69’ | Geneva International Film Festival 2017

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First published: November 13, 2017