Bildnis einer Trinkerin

[...] Mit poetischer Souveränität, besonnenen, fast sachlichen Hypotaxen und märchenhaft-melancholischer Monotonie im Duktus erzählt uns die Stimme vom Aufbruch dieser Super-Heroine, von ihrem Plan nach Berlin zu reisen, um zu trinken, durchzutrinken, für immer zu trinken.

[...] Im Trinken liegt nämlich nicht der suizidal-hedonistische Exzess, wie ihn Marco Ferreri etwa in «Das grosse Fressen» («La grande abbuffata») inszenierte; im Trinken liegt hier vielmehr das Versprechen einer Reise.

[...] «Bildnis einer Trinkerin» ist mit den gesellschaftlichen Realismen, den Vorurteilen und Stigmatisierungen seiner Zeit immer nur insofern befasst, als er sie bereits hinter sich liess.

Text: Lukas Stern

Es klingt wie die nüchternste Schnapsidee der Welt – und das hat zunächst weniger mit ihrem Prinzip zu tun als mit der Art ihres Vortrags. Eine Frauenstimme aus dem Off leitet in den Film ein, während wir Stöckelschuhe über einen Marmorboden klackern sehen. Sie erzählt von einer «Frau von hoher Schönheit, von antiker Würde und raphaelischem Ebenmass, eine[r] Frau, geschaffen wie keine andere, Medea, Madonna, Beatrice, Iphigenie, Aspasia zu sein». Mit poetischer Souveränität, besonnenen, fast sachlichen Hypotaxen und märchenhaft-melancholischer Monotonie im Duktus erzählt uns die Stimme vom Aufbruch dieser Super-Heroine, von ihrem Plan nach Berlin zu reisen, um zu trinken, durchzutrinken, für immer zu trinken; von einer Sightseeing-Tour des Trinkens ist die Rede, von einer auf die persönlichen Bedürfnisse der trinkenden Heldin umfunktionierten Sightseeing-Tour durch West Berlin. Das Trinken als eine Art und Weise des Sehens, als ein Modus der touristischen Erfahrung, der sinnlichen Aneignung des Fremden und der Qualifizierung des eigenen Fremdseins. Und wenn Ulrike Ottingers Bildnis einer Trinkerin, der erste Film ihrer Berlin-Trilogie, die nun zusammen mit ihrem aktuellen zwölfstündigen Dokumentarfilmprojekt Chamissos Schatten im Kino Rex Bern zu sehen ist, so etwas unternimmt wie eine Philosophie des Vollrauschs, dann muss man dieser Exposition wohl ganz genau zuhören: Im Trinken liegt nämlich nicht der suizidal-hedonistische Exzess, wie ihn Marco Ferreri etwa in Das grosse Fressen (La grande abbuffata) inszenierte; im Trinken liegt hier vielmehr das Versprechen einer Reise.

Der «letale Ausgang dieser Schnaps-Odyssee» sei programmiert, schrieb Spiegel-Rezensent Wolf Donner 1979 als der Film erschien; die Trinkerinnen – die namenlose Heroine, trifft auf ihrer Sauftour immer wieder auf Gleichgesinnte; allen voran begegnet sie einer Obdachlosen vom Bahnhof Zoo, mit der sie sich unzählige Male gemeinsam den Cognac in den Rachen schüttet – kämen nicht zusammen, bildeten keine Allianz, so Donner weiter; «denn der Alkohol macht seine Opfer zu einsamen Selbstmördern, nicht zu solidarischen Leidensgefährten». Dass diese Sprache, die Rede vom Opfertum und dem Selbstmord, an Bildnis einer Trinkerin vorbeizuschiessen droht, belegt der Film in mindestens zwei Szenen eindrücklich selbst. Suizidale Unterfangen gibt es nämlich tatsächlich. Einmal sehen wir die Heldin betrunken auf einem Seil balancieren; wackelig setzt sie die Füsse vor und zurück, verliert irgendwann das Gleichgewicht und fällt zu Boden. Ein anderes Mal sehen wir sie auf die Kühlerhaube eines Stunt-Autos gebunden, das durch brennende Ziegelwände brettert. Der Witz dieser Selbstmordkommandos ist letztlich aber gerade der, dass sie überlebt werden. Und wenn uns Bildnis einer Trinkerin in seiner Schlusseinstellung wieder den klackernden Gang von Stöckelschuhen zeigt, einen torkelnden Gang, der durch eine verspiegelte Röhre führt und dabei den verspiegelten Boden brechen und zerspringen lässt, dann aktualisiert sich in diesem finalen Bild gerade nicht der vorprogrammierte tödliche Ausgang, den Donner in dieser Einstellung sah, sondern – sehr viel symbolbefreiter – lediglich die Zertrümmerung des Spiegelbildes, eben des Bildnisses.

Bildnisse gibt es viele in diesem Film. Sofort stehen die Pressefotografen bereit, wenn sich die ausländische Sauftouristin mit ihrer obdachlosen Begleiterin einmal in einer Konditorei das Hirn derart aus dem Schädel bechert, dass sie zu randalieren beginnt. Unter Empörung dreier anderer, grau kostümierter Damen am Nebentisch, die ebenfalls immer wieder im Film zu sehen und zu hören sind, die offenbar wegen eines Kongresses in Berlin sind und die sich gegenseitig permanent mit soziologischen Erhebungen über das Trinkverhalten in der Bundesrepublik belehren, werden die beiden Besoffenen des Lokals verwiesen. Die Fotografen begleiten das Geschehen, knipsen es wild und aufdringlich und in dem Wissen, dass ihre Fotos Titelseiten zieren werden – mit dem boulevardesken Bildnis einer Trinkerin. Ein anderes Mal – im Hintergrund streckt sich im Morgengrauen die Siegessäule in den Himmel – nimmt sich ein Passant die Handtasche der Säuferin, legt ihren Inhalt säuberlich auf den Bordstein und fotografiert die einzelnen Gegenstände, produziert Bildnisse einer Trinkerin. Es sind Fotografien wie bei einer Beweisaufnahme und zugleich sind es Bilder, die aus Zärtlichkeit entstehen, die aus dem puren, naiven ästhetischen Interesse dieses Fotografen geboren werden.

Man kann diese Szene durchaus als Schlüsselmoment deuten, mischt sich doch in ihr gerade jenes bizarre Gemenge aus juristischer Kälte und einem liebevollen Blick, das den Film und seine Berlin-Bilder grundsätzlich affektiv grundiert. Dass es sich im übertragenen Sinne bei dem titelgebenden Bildnis schlicht um die öffentliche Wahrnehmung trinkender Frauen in den späten 1970er Jahren der Bundesrepublik handeln könnte, um einen sensus communis über die Unvereinbarkeit des Alkohols mit dem Weiblichen, um ein Frauenbild, das es zu bekämpfen und eben zu zertreten gälte, wäre Ottinger nicht nur zu einfach, es wäre ihr auch zu langweilig. Bildnis einer Trinkerin ist mit den gesellschaftlichen Realismen, den Vorurteilen und Stigmatisierungen seiner Zeit immer nur insofern befasst, als er sie bereits hinter sich liess. Das Verkrustete an der Gesellschaft, die die Trinkerinnen umgibt, ist nichts, was den wankenden Vorwärtstrieb der Schnapsnasen ausbremsen könnte, es ist lediglich das, was man kreuzt, wenn man reist, und woran man eben stösst, wenn man torkelt. Die drei Kongressdamen, ihr polizeiliches Auftreten, ihr statistisches Denken und ihr scheinbar faktischer Weltbezug sind immer schon eher Randerscheinung als Kontrastfolie. In Bildnis einer Trinkerin, darin liegt auch die Radikalität des Films, muss das Saufen nicht erst zu seinem Recht kommen; das Recht ist mit der Exposition des Films bereits in Kraft gesetzt. Und in dem Sinne, in dem es hier nicht um die Installierung eines Rechts auf Vollrausch inmitten einer steinernen Gesellschaft geht, in dem es nicht um ein reales Emanzipationsprogramm geht, geht es auch nicht um weibliches Opfertum. Das Saufen ist nicht unbedingt Resignation und Weltabgewandtheit, es ist, im Gegenteil, eine Weltzugewandtheit, ein Sightseeing.

Info

Bildnis einer Trinkerin | Film | Ulrike Ottinger | DE 1979 | 109’ | Kino Rex Bern

More Info

Ulrike Ottinger’s Website

First published: March 09, 2017